Mittwoch, 28. März 1945

 Unruhe und Hoffnung

Der frühe Morgen bringt aufregende Meldungen: Amerikanische Vorausabteilungen sollen von Siegen aus in Anmarsch auf Rothemühle sein, wo das Freikorps "Sauerland" in Alarmbereitschaft steht. Panzerspitzen stoßen angeblich schon auf die südliche Kreisgrenze bei Hünsborn vor. Das Dorf liege ‑ so heißt es ‑ unter Artilleriebeschuss, doch bald stellt sich heraus, dass die Frontlinie in Wirklichkeit erst im Süden des Kreises Siegen zwischen Burbach und Haiger verläuft und die eingegangenen Nachrichten den Sturm auf Siegen betreffen. Vorsorglich wird in Olpe der Volkssturm aufgerufen, weil man mit feindlichen Durchbrüchen rechnen muss. Sammelpunkt für einige Hundert Volkssturmleute ist die Landwirtschaftsschule auf dem Gallenberg. Ab 4.30 Uhr erscheinen nach und nach sehr junge oder schon bejahrte Männer aus Stadt und Umgebung, die erst im Februar zu Übungen eingezogen gewesen waren. Da ihre Abfertigung längere Zeit beanspruchen wird, teilt man sie in einzelne Gruppen ein, die zu bestimmten Stunden erneut antreten sollen. Im Laufe des Vormittags verteilen motorisierte Melder weitere Einberufungsbefehle im ganzen Kreisgebiet. Die meisten dieser Wehrpflichtigen wollen nicht noch im letzten Augenblick des Krieges für eine Sache geopfert werden, die selbst ein Kind als verfahren beurteilen würde. Manche überlegen, wie sie fliehen oder wo sie sich verstecken können.

Die allgemeine Unruhe pflanzt sich rasch fort. Gehälter für drei Monate im voraus will das Landratsamt auszahlen. Die Stadtverwaltung trägt sich mit dem Plan, Olpe auf höhere Weisung zu verlassen. Fabriken schließen ihre Tore.

Um 9.15 Uhr heulen die Sirenen Fliegeralarm. Eilig leeren sich die Straßen. In den Bunkern drängen sich aufgeregte Menschen. Gerüchte schwirren umher. Einer flüstert es dem anderen zu: "Der Ami kommt heute, ganz bestimmt!" Die Hoffnung auf den längst ersehnten Frieden überdeckt jede Angst vor der nahenden Front. Freudige Erwartung steht auf vielen Gesichtern. Unverhüllt äußert man seine Gedanken: "Die Front wird schnell vorüberrollen. Und danach ist endlich Ruhe! Ein herrliches Osterfest! Einfach nicht auszudenken." Die meisten glauben fest, nun allem Unheil entronnen zu sein.

 

Die verhängnisvolle Vorentwarnung

10.23 Uhr. Mitten hinein in diese rosigen Zukunftsbilder tönen die Luftschutzsirenen, ‑ Vorentwarnung. Unmittelbare Luftgefahr besteht nicht mehr. Bunker und Keller werden leer. Vielen kommt die Luftlage günstig. Man will Ostereinkäufe erledigen und überhaupt Vorsorgemaßnahmen für den Fall treffen, dass die Amerikaner heute oder morgen einmarschieren. Sogar ängstliche "Bunker‑Dauerläufer" trauen sich nach Hause. Die Straßen füllen sich mit Menschen wie sonst an den Samstagen. Der frühe Morgen war heiter gewesen, nun ziehen im leichten Südwind Wolken auf. Das geschäftige Treiben in der Stadt stören sie nicht. Niemand scheint etwas von dem tragischen Finale zu ahnen, das schon begonnen hat.

Mittlerweile erging ein Einsatzbefehl an vier britische Staffeln mittelschwerer Bomber. Die 98. und die 180. Staffel liegen auf einem Feldflughafen in Melsbroek, die 320. auf dem benachbarten Rollfeld in Zaventem, nur wenige Kilometer nordöstlich von Brüssel. Die 226. Staffel hat ihren Einsatzhafen in Frankreich, im Dörfchen Vitry‑en‑Perthois, 4 km nordöstlich der Stadt Vitryle‑Francois an der Marne. Alle vier gehören zum 137. Geschwader in der zweiten Gruppe aus der Zweiten Taktischen Luftflotte der Royal Air Force. Die "Second Tactical" besteht seit Juni 1943, ihr Kommandeur ist Luftmarschall Sir Arthur Coningham. Diese Luftflotte hat als Hauptaufgabe die Zerstörung kleinerer Eisenbahn‑ und Straßenknotenpunkte im Ruhrgebiet und seinen Randbezirken übernommen. Der sich bildende Ruhrkessel soll laut "Schlachtfeldsperrprogramm" vom übrigen Deutschland verkehrsmäßig isoliert und für die Eroberung durch die Erdtruppen vorbereitet werden. Damit ist über kleinere Orte an Durchgangsstraßen und Bahnlinien, die als rückwärtige Verbindungen zur Front mit möglichen Nachschubbasen taktisch wichtig sind, das Todesurteil gesprochen.

Die vier Staffeln in Belgien und Frankreich fliegen sämtlich in zweimotorigen "B 25 Mitchell"‑Maschinen. Dieser von der amerikanischen Firma North American gebaute Typ ist in kleiner Stückzahl auch bei der RAF eingeführt und hat sich bisher gut bewährt. Vier Staffeln, das sind 48 Flugzeuge mit insgesamt 288 Mann Besatzung. Ihr Einsatzbefehl lautet: Zerstörung des Verschiebebahnhofs Olpe. Als "secondary target" (Ausweichziel) wird ihnen der Bahnhof Attendorn genannt. Inzwischen haben die Männer vom Bodenpersonal die Maschinen betankt und beladen. Nur Sprengbomben hängen in den Schächten, Sprengbomben vom Kaliber "Medium Capacity" (mittlerer Sprengstoffanteil), 500 englische Pfund schwer. Diese dünnwandigen Minenbomben sind ohne das 43 cm lange Leitwerk 110 cm hoch und haben einen Durchmesser von 30 cm. In stählernen Bombenkörpern ruhen jeweils 103 kg Hexogen‑Trinitrotoluol. Für die Detonation dieser gefährlichen Mischung sorgen hochempfindliche Heck‑ und Kopfzünder, vereinzelt auch Langzeitzünder.

In Vitry, in Melsbroek und Zaventem heulen die Flugzeugmotoren auf. Mit einer Geschwindigkeit von annähernd 500 Stundenkilometer beginnt der Flug nach Osten. Rund 240 bzw. 360 km liegen zwischen Start und Ziel, ein Flugweg also von etwa 30 bis 45 Minuten. Die Maschinen E, L und R der 98. Staffel müssen unterwegs wegen Motor‑ und Geräteschaden ausscheren und zurückfliegen. Eine Fehlorientierung über Feindesland dürfen sie nicht riskieren. Gleiches Missgeschick trifft ein Flugzeug der 226. Staffel. Zudem war die 320. Staffel mit nur 11 Maschinen aufgestiegen. So fliegen jetzt noch 43 Mitchellbomber Olpe entgegen.

Über der Stadt hängen 10/10 Kumuluswolken mit Spitzen bei 2.100 m über Grund. Das Ziel kann demnach nur im Blindflug mit Hilfe von Ortungsgeräten angegriffen werden. Weil aber bei sechs Maschinen der 180. und bei ebenfalls sechs der 226. Staffel diese Instrumente ausfallen und sie Olpe nicht finden können, steuern sie das Ausweichziel Attendorn an. Die dortigen Wolkenverhältnisse – nur 4/10 Kumulus zwischen 1.500 und 2.400 m und Altostratus bei 4.500 m ‑ bieten Sichtlöcher und somit gute Orientierung. Ringsum schweigt das deutsche Abwehrfeuer, obwohl die zweite Flakbrigade bei Siegen liegt. Auch taucht kein deutscher Jäger auf. Ungefährdet umkreisen die nunmehr noch 31 Maschinen den Zielraum und wählen eine parallel zur Bahnlinie von Südost nach Nordwest laufende Anflugschneise. Sie schlagen einen Halbkreisbogen um Olpe und ziehen aus Richtung Rhonard‑Günsen heran. Über ihr Zielgerät gebeugt, warten die Bombenschützen.

In der Olper Warnvermittlungsstelle im Rathauskeller sitzen die Frauen Gerda zu Jeddeloh und Hedwig Peterhanwar am Klappenschrank. Seit dem frühen Morgen erhalten sie selten oder überhaupt nicht Kontakt zur Außenwelt. Die Hauptleitung nach Siegen scheint gestört. Meldungen über die nahende Front bringen Verwirrung in das bisher so gut funktionierende Warnsystem. Jedenfalls kommen keine Alarmbefehle mehr herein. Niemand denkt daran, ein Radio einzuschalten und Luftlagemeldungen über Drahtfunk zu verfolgen. Draußen vor dem Rathaus steht Polizeileutnant Erich Wegmann. Er vernimmt ein fernes Summen irgendwo am Horizont. Voll Unruhe fragt er die Frauen, ob feindliche Einflüge gemeldet wurden. Sie sagen nein. Das Summen schwillt an, wird zum unheimlich drohenden Grollen. Überrascht bleiben Menschen stehen und lauschen gespannt nach oben. Kein Zweifel, da naht ein Bomberverband, hoch über der Wolkendecke. Der wird schon, wie viele andere vorher, weiterfliegen ‑ glaubt man. Im übrigen schweigen die Sirenen. Der Uhrzeiger rückt auf 10.54 Uhr.. Da gibt Wegmann den Befehl, die Sirenen auszulösen. Ihr klagend auf‑ und abschwellender Ton kündet höchste Gefahr.

 

Dreizehn lange Minuten

Doch ihr Warnzeichen kommt zu spät! Denn zur gleichen Zeit, als der Knopf im Rathaus gedrückt wurde, haben Bombenschützen ihren Schalter umgelegt, Bombenschächte geöffnet und deren Inhalt ausgeklinkt. Aus einer Höhe von 3600 bis 4300 m trudeln Fünfzentnerbomben zur Erde. Bis sie unten aufschlagen und die Stromzufuhr zerreißen, fallen sie 30 Sekunden lang. Den Sirenen verbleibt eine halbe Minute Zeit, die Bevölkerung zu warnen. Aber das Pfeifen und Rauschen des niedergehenden Bombenteppichs wächst und übertönt selbst die gellenden Sirenenschreie. Scharen geängstigter Menschen suchen die nächsten Schutzräume. Nur wenige wissen, was eigentlich los ist. Dann zucken Stichflammen. Furchtbar krachen die Deto­nationen. Die Erde bebt, als ob die ganze Stadt zerstampft würde. Staub‑ und Sprengwolken wirbeln auf und verdunkeln den Himmel, Mauern zerbersten, Dachstühle werden aufgeschlitzt, Trümmer fliegen hoch durch die Luft. Unheimlich prasseln kleine Steine und Erdklumpen auf umliegende Häuser. Die erste Welle dreht ab. Eine kurze Atempause. Dann bricht die Hölle erneut los. Ein Dröhnen wie von Riesenpauken, ohrenbetäubend und schmerzhaft. Die Luftstöße sind fürchterlich. Wieder einen Augenblick lang Ruhe bis zum dritten Teppich­wurf. Ihm folgen zwei oder drei Minuten die erfüllt sind vom scheußlichen Kreisen der unsichtbaren Bomber. Dann explodieren kurz hinterein­ander der vierte und fünfte Teppich. Die schmetternden Schläge verhallen. Das Tosen ebbt ab. Es ist 11.07 Uhr. Nur dreizehn Minuten sind vergangen, ‑ eine Ewigkeit für alle, die sie durchleben mussten. Die Feindbomber haben gewendet und entfernen sich, ‑ erleichtert um 309 Sprengbomben. Rund 32.000 kg Sprengstoff haben ihr Zerstörungswerk getan.

 Inzwischen sind auch in Attendorn Fünfzentnerbomben gefallen Dort stießen die zwölf Mitchellbomber, die aus dem Hauptverband ausgeschert waren, auf einen Pulk von 22 Bostonflugzeugen des 139. Geschwaders. Zusammen griffen sie bei guten Sichtverhältnissen das Bahngelände aus einer Höhe von 3.300 bis 4.200 m mit 132 Sprengbomben an und konnten eine große Einschlagdichte quer durch den Zielbereich feststellen.

 Über Olpe war es wegen fehlender Erdsicht nicht möglich, die Treffer im Stadtbild zu beobachten. Die Flieger wissen nicht, dass die "marshalling yords" (die Bahnanlagen) von Olpe ‑ das eigentliche Ziel ‑ unversehrt geblieben sind, dass ihre Bomben Fehlwürfe waren, die zu einem Drittel die Stadt und zu zwei Dritteln die umliegende Wald‑ und Feldflur getroffen haben. Beim Abflug wird den Männern der RAF nur ein kleines Schauspiel geboten, das wenig von den tatsächlichen Auswirkungen der Bomben ahnen lässt: Ein großer brauner Pilz‑ gebildet aus Ziegelmehl, Lehmstaub und Sprengwolken ‑ durchstößt die geschlossene Bewölkung und quillt rasch bis zur Höhe von 2.700 m empor. Den Staffelkapitänen bleibt nur noch die Aufgabe, ihre Eindrücke im Logbuch festzuhalten und auf Heimatkurs zu gehen. Für sie ist dieser Einsatz eine alltägliche Sache gewesen, fast schon ein Routineauftrag ohne Gefahr: Ziel ansteuern, unbehelligt abladen und über Bordfunk "Bomben raus, erledigt!" melden. Im übrigen zählt dieser Angriff auf Olpe zu den unbedeutenden 205 Störangriffen, die in der fünften und gleichzeitig letzten Phase des Luftkriegs gegen Deutschland geflogen wurden.

 

Im Trümmerchaos

Ein Inferno löst dieser Überraschungsangriff aus. Grauenvolle Szenen spielen sich ab, auf den Straßen, in den Häusern, vor den Bunkern. Getroffene Menschen schreien wie Tiere. Einige sind wie von Sinnen, die Todesangst hat sie kopflos gemacht. Andere beten still vor sich hin. Nur wenige sind beherzt genug, gegen die allgemeine Erregung anzukämpfen, das Durcheinander zu ordnen und Panikausbrüche zu verhüten.

Nur ein Teil der fünf Bombenteppiche hat die bewohnte Stadtflüche getroffen. Die Masse der Abwurfmunition fiel außerhalb. In weit gestreuten Reihenwürfen verursachte sie Wald‑ und Flurschäden auf dem Kreuzberg, in der "Wüste", in der Hardt ‑ vom Schützenplatz bis zum Hohen Bilstein ‑ und schließlich am Himmlischen Berg in Richtung Günsen. Allein rund 100 Bomben trafen die Strecke Finkenhagen‑Kreuzberg‑"Wüste"‑Hardt. In den feuchten Biggewiesen stecken etwa 30 Blindgänger. Fast vier Hektar Eichen‑ und Fichtenwald wurden vom Bombenwind umgelegt, von Splittern zerhackt.

 

 

Das Stadtzentrum zeigt große Verheerungen. Der Weg durch die Trümmerlandschaft beginnt in der unteren Kölner Straße an der von zwei Volltreffern durchlöcherten Olpebachbrücke. Das Schadensgebiet wird begrenzt durch die Martinskirche, Kirchgasse, die Straßen Auf der Mauer, Weiherohl, Martinstraße bis Krankenhaus, Hospitalweg, Kurfürst‑Heinrich‑Straße, Bahnhofstraße, Franziskaner‑ und Mühlenstraße. Die Pfarrkirche hat durch drei Volltreffer außen und innen tiefe Wunden empfangen, ebenfalls das im Mittelpunkt des Bombenhagels gelegene Landratsamt. Die umliegenden Häuser haben entweder zerstörte Dachstühle oder stark beschädigte Erdgeschosse. Weil die Bomben Minenwirkung besaßen, durchschlugen sie weder Geschoßdecken noch drangen sie tief ins Straßenpflaster ein, sondern explodierten sofort. Splitter und Druckstoß haben vor allem am Erdboden Tod und Zerstörung gebracht. Viele Gebäude sind zum Teil abgedeckt. Fenster, Türen und massive Wände wurden eingedrückt oder herausgerissen. Zimmerdecken sind herabgestürzt, Möbel und Hausrat zerschlagen. Bäume wurden zerfetzt und entwurzelt, Leitungsmasten geknickt. Im weiten Umkreis gibt es keine heile Fensterscheibe. Mehrfach getroffen wurden Versorgungsleitungen und Telefonverbindungen. Obwohl das Postamt an Dach und Fenstern arge Beschädigungen erhalten hat, sind die Einrichtungen des Fernsprech‑ und Telegrafendienstes intakt geblieben.

Auf der Fohrt Ecke Felmicke sind vier Sprengbomben explodiert und haben ein Haus schwer, drei weitere mittelschwer bis leicht beschädigt. Zum Glück lagen die Einschläge weit genug vom dortigen Stolleneingang entfernt.

Größere Verheerungen verursachte ein breiter Bombenteppich, der in seiner Masse zwar Waldgebiet, mit mindestens aber 17 Bomben noch die Bergstraße getroffen hat. Hier sind die Häuser Ohm, Baum und Clemens (33 und 34) total zerstört, während die städtischen Baracken und fast alle Häuser der Nachbarschaft erheblich demoliert wurden. Man kann sie höchstens noch als Notunterkunft bewohnen, da sie keinen Schutz mehr gegen Wind und Wetter bieten.

Einen Überblick über sämtliche Zerstörungen zu erhalten, fällt in diesen Stunden natürlich schwer. Außerdem lodern inzwischen an verschiedenen Stellen der Unterstadt Feuer auf, die noch weitere Wohnungen vernichten. Durch Bombenwurf und nachfolgende Brände sind 42 Häuser völlig zerstört, 66 schwer, 108 mittelschwer sowie 351 leicht beschädigt, insgesamt also 567 betroffen worden.

 

Tod und Wunden

Schwerer als alle Schäden materieller Art wiegen die sehr hohen Verluste der Bevölkerung. Ihr Ausmaß ‑ bezogen auf die Einwohnerzahl der Kleinstadt ‑ lässt Einzelschicksale verblassen. Die meisten hat der Tod in der Bahnhofstraße getroffen, wo Frauen und Mädchen Schlange standen, um für die Ostertage Sonderzuteilungen einzukaufen. Sie sind von den Bomben förmlich niedergemäht worden. Ähnlich schreckliche Bilder bieten die angrenzenden Geschäftsstraßen und das Weiherohl. Grausige Früchte trägt eine Linde am Marktplatz: Fleisch‑ und Knochenteile eines menschlichen Körpers! In der Bergstraße gibt es fünf Tote und fünf Schwerverletzte. Über die Todesziffer laufen verschiedene Gerüchte um. Mehr als 250 Einwohner und Soldaten sollen umgekommen sein! Amtliche Feststellungen nennen 150 Menschen, die sofort getötet wurden oder bald ihren Verletzungen erlagen. Sieben Vermisste rechnen ebenfalls zu den Opfern. Noch sind verzweifelte Menschen auf der Suche nach ihren Angehörigen. Oft gibt es ein erschütterndes Wiedersehen, wenn nahe Verwandte als verdreckte, blutige Menschenbündel mit entstellten Gesichtszügen aufgefunden werden. Überall hat der Tod Ernte gehalten: unter einstürzenden Mauern, in brennenden Häusern, auf dem Weg zu den schützenden Bunkern. Die meisten Menschen waren dem Angriff unter freiem Himmel preisgegeben. Einige wurden nachträglich durch Zeitzünderbomben niedergestreckt, von Splittern zerfetzt, vom Luftdruck getötet.

Den Verletzten gehört zunächst die ganze Sorge! Energie und Besonnenheit tun not. Es fehlt jedoch an erfahrenen und beherzten Helfern, an genügend Transportmitteln, an Bahren, an Pflegepersonal und Raum. Immer mehr Verwundete werden aufgelesen, auf ausgehängten Türen, Brettern und Handkarren zu den Lazaretten geschafft. Dort ist man dem Ansturm nicht gewachsen. In langen Reihen liegen stöhnende Menschen auf den Fluren des Krankenhauses und des Oberlyzeums, viele auf dem nackten Boden. Mindestens 80 sind schwer verletzt. Das Oberlyzeum ist Mittelpunkt des Grauens und der unbeschreiblichen Not. In drangvoller Enge warten Verwundete auf Rettung, Sterbende auf den Tod. In dem allgemeinen Wirrwarr bleibt es unmöglich, jeden einzelnen zu beachten. Ärzte und Schwestern, Sanitäter und freiwillige Helfer tun ihre Pflicht so gut sie können. Die Operationstische werden so schnell nicht leer.

An den Sammelplätzen des Elends wirkt unermüdlich auch die Geistlichkeit. An ihrer Spitze bewährt sich als eifriger Seelsorger seiner Gemeinde Pastor Franz Menke. Auf den Straßen, in zerstörten Häusern, in Kellern und Bunkern spenden die Vikare Albert Vonnahme, Friedrich Lohmann und Pater Dr. Ephrern Filthaut ‑ alle drei ohne Obdach ‑ die Sterbesakramente. Durch priesterlichen Beistand helfen ferner der Kölner Rektor Alfes, Vikar Dr. Ferdinand Gastreich, Rektor Dr. Heinrich Niebecker und Kriegspfarrer Raible. So manchen der Schwerbetroffenen stärkt tröstlicher Zuspruch, bevor er ausgelitten hat.

Pfarrer Franz Menke (+ 1955) bewährte sich in diesen schweren Tagen als ein wahrhaft großer Seelsorger. Daneben erwarb er sich auch Verdienste durch gute Schilderungen seiner Erlebnisse. Die ersten Eindrücke notierte er sich in Kurzschrift auf die Seiten seines Breviers.

Der Leiter des Roten Kreuzes, Medizinalrat Dr. Leo Polle, arbeitet im Gesundheitsamt an der Imbergstraße. Hier wurde zur Versorgung leichter und mittlerer chirurgischer Verletzungen und zur Behandlung von Kampfstoffvergiftungen eine Rettungsstelle für den Bereich der Oberstadt eingerichtet. Schon bald nach dem Bombenwurf ist das Haus überfüllt. Beim Schein von Taschenlampen werden auch Schwerverletzte behandelt. Tatkräftig und umsichtig helfen Soldaten aus den Olper Lazaretten. Sie, die nicht mehr bettlägerig sind, beteiligen sich eifrig an den Rettungsarbeiten.

Das Olper Rote Kreuz, das seine Apotheke im Haus Zeppenfeld (Kölner Str. 5) verlor, hat durchweg acht Männer und 18 Frauen eingesetzt. Ihre Maßnahmen entsprechen der Turbulenz dieser Stunden und lassen zentrale Organisation vermissen. Bei aller Improvisation könnte schneller gerettet werden, wenn mehr Menschen ihre Angst überwinden und zugreifen würden. So vollbringt eine kleine Schar ein Übermaß an Leistung und liefert auch inmitten des Chaos Beweise menschlicher Größe.

Weil der Platz in den Lazaretten nicht mehr ausreicht, das St. Martinushospital zudem selbst beschädigt wurde, fahren ab 16.30 Uhr die ersten Verwundetentransporte zum Pallottinerkloster und zu den Krankenhäusern von Attendorn, Bilstein und Elspe. Bei manchen, die auf den Militärwagen liegen, wird jede Hilfe zu spät kommen. Zu groß sind die Wunden, zu hoch war der Blutverlust.

Alle nur möglichen Verletzungen sind inzwischen versorgt worden: die kleine Schnittwunde, die Verstümmelten Gliedmaßen und schwerste Verletzungen an Kopf, Brust und Bauch. Die Ärzte schätzen, dass sie im Laufe dieses Tages etwa 300 Menschen betreut haben, Militär‑ und Zivilpersonen, Fälle für ambulante und für stationäre Behandlung.

 

Zu wenig helfende Hände

Kaum, dass die letzte Angriffswelle der Mitchellbomber abgedreht hat und das Donnern ihrer Bomben verhallt ist, lodern bereits in der Kölner Straße die ersten Flammen auf. Die Metzgerei Mertens (Nr. 4), in der große Fettvorräte lagern, brennt wie eine Fackel von oben bis unten. Vermutlich hat hier die Stichflamme einer Sprengbombe gezündet; denn Brandbomben wurden ja nicht abgeworfen. Die Freiwillige Feuerwehr Olpe schafft zunächst ihre Fahrzeuge heran, die zum Schutz gegen Luftangriffe außerhalb der Stadt abgestellt waren. Nach dem Leitwort „erst Leben retten, dann Heim‑ und Habe“ bemühen sich die Wehrleute ‑ unter der Führung von Heinrich Heller ‑, Verwundeten beizustehen und sie aus dem Gefahrenbereich zu bringen. Zu diesem Zeitpunkt gilt die Rettung des Hauses Mertens bereits als aussichtslos. Hier entwickelt das Feuer große Hitze. Kleine Brandnester, vermutlich durch umgestürzte Öfen entstanden, werden in den Häusern Schmitten (Mühlenstr. 1) und Gipperich (Kurfürst‑Heinrich‑Str. 4) entdeckt. Löschfahrzeug 15 mit Motorspritze und acht Mann kommt bei Gipperich zum Einsatz, Löschfahrzeug 8, ebenfalls mit acht Mann, bekämpft von der Bahnhofstraße aus den Entstehungsbrand bei Schmitten. Wegen Ausfall der Sammelleitung fließt kein Löschwasser aus den Hydranten. Es muss aus dem Mühlengraben gepumpt werden. Inzwischen springt das Feuer, besonders vom Haus Mertens, durch Funkenflug und Strahlhitze auf benachbarte Gebäude über. Da der Bombenwind ihre Fenster und Dächer aufgerissen hat, finden die Flammen ungehindert den Weg zu den zertrümmerten Wohnungen. Vereinzelt explodieren Zeitzünderbomben und zwingen die Rettungstrupps, eilig in Deckung zu gehen. Gegen 12.30 Uhr brausen im Tiefflug Jagdbomber heran und feuern aus ihren Bordkanonen, Wieder werden die Löscharbeiten gestört und für eine Weite unterbrochen. Einige Leute glauben aus ihren Deckungen gesehen zu haben, wie diese Maschinen Brandbomben abwarfen oder mit Phosphormunition Feuer entfachten. Jedenfalls entwickeln sich an verschiedenen Stellen neue Brände. Große Hitze strahlt auch das inzwischen brennende Textilkaufhaus Holterhoff aus, wo das Feuer an ausgelagerten Stoffen reichlich Nahrung findet. Bald nehmen die Brände an allen Ecken bedrohliche Ausmaße an. Ihre Glut beginnt die Luft stark aufzuheizen. Wände stürzen ein. Ein Funkenregen ergießt sich über die Löschmannschaften, denen oft der Weg zu den Brandherden durch Trümmer versperrt wird. Resignierend wenden sich die ersten ab.

Mittlerweile trifft die in Rhode stationierte Erkelenzer Feuerschutzpolizei mit Gerät und 16 Mann ein. Sie soll den Häuserblock Holterhoff‑Schöne‑Zeppenfeld ablöschen bzw. Kalt halten. Als nach einer halben Stunde wieder Tiefflieger erscheinen, sind die Wehrmänner verschwunden. Erneut flackern halberstickte Brände auf und greifen um sich.

Schon kurz nach dem Angriff hat Polizeileutnant Wegmann bei der NSDAP-Kreisleitung um Hilfeleistung gebeten, die früher von dort immer großzügig versprochen wurde. Nun Lautet die Antwort: "Sie müssen sich selbst helfen! Wir haben keine Leute." Jetzt am frühen Nachmittag, als die vorhandenen Kräfte das Feuer nicht mehr bewältigen können und dem Stadtkern große Gefahr droht, greift Wegmann zum Telefon. Die Verbindung mit Rehringhausen klappt. Hier liegt seit zehn Tagen die achte Kölner Feuerwehr‑ und Entgiftungsbereitschaft. Ihr Führer Heinrich Rettweiler hat in der Wirtschaft Nies Quartier bezogen. Seine Bereitschaft besitzt eine Sollstärke von 103 Mann, zwei Löschzüge, zwei schwere Spritzen mit einem Leistungsvermögen von 2.500 l pro Minute, zwei leichte Spritzen mit einer Leistung von 800 l minütlich, zwei Schlauch‑ und einen Gerätewagen, einen PKW, einen Mannschaftswagen und fünf Motorräder. Der Polizeiführer am Telefon schildert die Lage in Olpe und spricht von einem Flammenring, der sich um die Kreuzung von Kölner‑, Kurfürst‑Heinrich‑, Martin‑ und Bohnhofstraße zu schließen beginnt. Von einer Kontrolle des Brandes könne kaum noch geredet werden. Rettweiler will sofort abrücken. Auch die Feuerwehren von Drolshagen und Wenden werden alarmiert. Sie treffen mit je einem Wagen und zehn Mann ein. Aus Rehringhausen bringen 25 Kölner Wehrmänner ihren schweren Löschzug mit. Sie finden schon ziemlich niedergebrannte Häuser vor. Brandbombenreste entdecken sie nicht. Eingesetzt wird nur noch die schwere Spritze, für die Olpebach und Bigge das Wasser hergeben. Es mag gegen 16 Uhr sein, als sich auch der Kölner Entgiftungszug mit seinen 23 Mann an Lösch‑ und Aufräumungsarbeiten beteiligt. Während der Brandbekämpfung zu dieser Zeit erfolgen keine Angriffe mehr durch Störflugzeuge.

Waren nur Bomben und Bordwaffen schuld daran, dass zehn Groß‑ und drei Mittelbrände mit so wenig Erfolg bekämpft wurden? ‑ Ein größerer Flächenbrand im Stadtzentrum konnte zwar verhütet werden, doch sind die Häuser Mertens, Holterhoff, Schöne, Zeppenfeld (Kölner Str, 4, 1, 3, 5), Holterhoff, Dornseiffer, Sondermann (Bahnhofstraße 2, 1 und 4), Löser, Gipperich (Kurfürst‑Heinrich‑Str. 3 und 4),Bonzel (Martinstraße 2) und Schmitten (Mühlenstraße 1) mit allen Werten in Flammen aufgegangen. Außerdem werden unter den Trümmern einige Tote vermutet. Im Weiherohl sank das alte Strohdachhaus in Asche. Auf der Mauer (Nr. 7) brannte Haus Hardenack. Es konnte zum Teil gerettet werden.

Nachhaltige Löscharbeiten haben überall zu spät begonnen. Die Kräfte von außen erschienen erst, als es galt, den Brandort abzuriegeln und die Aufräumungsarbeiten einzuleiten. Mit gezielten Einsatzbefehlen hätte eine zentrale Stelle gewiss mehr retten können. Allerdings ist die Schockwirkung eines Überraschungsangriffes zu berücksichtigen, dessen Auswirkungen Olpe bisher nicht kannte. Sie lähmte jede Entschlusskraft, machte kopflos und verstört. So kam es schnell zur Kapitulation vor den Elementen. Von den mehr als 100 Feuerwehrleuten besaßen nicht alle Geschicklichkeit und Mut, die eine solche Situation erfordert.

Überhaupt bieten sich an diesem Nachmittag zu wenig helfende Hände. Menschlich verständlich ist das Versagen von Männern, die sich in dunklen Winkeln der Keller und Bunker aufhalten. Vielleicht glauben sie, dass sie noch zum Volkssturm müssen und nur in diesen Verstecken der Feldgendarmerie entschlüpfen könnten. Andere Männer ‑ an der Spitze die Beamten der Stadtverwaltung ‑ stehen dagegen den ganzen Tag über im Einsatz. Zu den Unermüdlichen gehören auch die 34 Mitglieder der Technischen Nothilfe, die unter der Leitung von Josef  Feldmann an den Bergungsarbeiten großen Anteil nehmen, den Inhalt zerstörter Geschäfte sicherstellen, Wertgegenstände von Toten in Tüten sammeln und zum Rathaus schaffen, Trümmer beiseite räumen und allerorts mit anfassen, wo Hilfe gebraucht wird.

Ganz andere Absichten verfolgt dagegen eine kleine Gruppe von Menschen ‑ nicht nur Fremde! ‑ die, Ratten gleich, durch verlassene Häuser huschen. Statt zu retten, wie sie vorgeben, stehlen sie, was die Bomben verschonten. Selbst Leichen sind vor ihnen nicht sicher! Das schamlose Verhalten dieser Plünderer und Leichenfledderer gehört zu den kaum verständlichen Geschehnissen dieses Tages. Würde dieser Pöbel, der gewissenlos aus der Not Kapital schlägt, hart bestraft, man könnte kein Mitleid mit ihm haben.

 

Volltreffer im Russenlager

Während in den schwer betroffenen Straßen Lösch‑ und Bergungstrupps arbeiten, fliegen um 14.30 Uhr zwei oder drei Jabos Olpe an. Sieben Minuten kreisen sie über der Stadt, behindern die Rettungsarbeiten durch Bordwaffenbeschuss und lassen schließlich acht Sprengbomben auf die Baracken des Russenlagers beim Bahnhof fallen. Vielleicht haben sie hier Militär vermutet oder das Bahngelände treffen wollen. Nachdem die Explosions- und Staubwolken verzogen sind, weisen die Unterkünfte der Kriegsgefangenen große Schäden auf. Furchtbar sind die Auswirkungen einer Bombe, die in einem Splittergraben detonierte. Hier wurden Menschen buchstäblich zermalmt und zerrissen. Etwa 20 Opfer können geborgen werden. Vermutlich sind noch Überreste weiterer Leichen im Graben geblieben. Genau lässt sich das nicht feststellen. Da noch einige Russen in der Stadt umgekommen sind ‑ so sechs in einer Marschkolonne bei der Rochuskapelle ‑, dürften 35 oder mehr getötet worden sein. 60 Russen müssen als überwiegend Schwerverletzte in die Lazarette eingeliefert werden.

Die Nachmittagsstunden verrinnen schnell. Wolkenschwer und düster kommt der Abend. Glühende Mauern stürzen zusammen, zahllose Funken lagen umher. Menschen weinen um ihre Lieben, Verletzte wimmern, Obdachlose beklagen den Verlust ihrer Habe. Viele suchen den Schlaf in Kellern und Bunkern. Einige mögen an frühere Schicksalstage denken, so an den Stadtbrand vom 28. April 1795 ‑ vor genau 150 Jahren. Die damalige Feuersbrunst zerstörte mit Ausnahme weniger Häuser die ganze Stadt. Aber nur drei Menschen kamen angeblich in den Flammen um. Heute brennt zwar ein kleiner Teil der Stadt. Doch die Schaden sind groß. Und viele Menschen gingen in einen schweren Tod, dessen Sinn unbegreiflich scheint.

Beizender Rauch verschleiert den Himmel. Regentropfen vereinigen sich zu einem dünnen Geriesel, das die ganze Nacht über anhalten wird. Mitternacht. Der schwarze Mittwoch muss einem neuen Tage weichen.

 

Gründonnerstag, 29. März 1945

BBC London meldet: „Der Verkehrsknotenpunkt Olpe wurde mit gutem Erfolg angegriffen!“ Der deutsche Wehrmachtsbericht schweigt. Die Stadt steht unter der Schockwirkung des furchtbaren Überraschungsangriffes. In anderen Jahren fand in der St. Martinuskirche ein ernst‑feierlicher Gottesdienst statt. Heute herrscht hier "der Gräuel der Verwüstung an heiliger Stätte". Noch am gestrigen Nachmittag und Abend waren die meisten im Freien liegenden Leichen im Vorhof des Krankenhauses zusammengetragen worden. Heute beginnen die Bergungstrupps mit der Suche nach Vermissten, deren Überreste in zusammengesunkenen oder ausgebrannten Häusern vermutet werden. An der schwierigen, gefahrvollen Arbeit beteiligen sich neben der Technischen Nothilfe auch Arbeiter aus den stillgelegten Fabriken. Im notdürftig aufgeräumten Pfarrhaus erscheinen inzwischen immer mehr Menschen, die den Tod ihrer Angehörigen melden und sich nach Art und Zeitpunkt der Beerdigung erkundigen. Die Tiefbaufirma Jung aus Hessenhammer hat mit der Herrichtung eines Massengrabes begonnen. Eine Abteilung der Stadtverwaltung hält sich im „Befehlsstand“ des Hexenturmbunkers auf. Von hier aus werden alle notwendigen Angelegenheiten geregelt, die Beschaffung der Särge in die Wege geleitet, den Ausgebombten als „Erste Hilfe“ Geldbeträge, Bezugsscheine, Stoffe und Nahrungsmittel ausgehändigt und ‑ so gut wie möglich ‑ für ihr Unterkommen gesorgt. Nur stundenweise kann die Versorgung mit elektrischem Licht aufrechterhalten werden, weil wichtige Zuleitungen zerstört wurden. Auch die meisten Fernsprechanschlüsse sind tot, ihre Oberleitungen hängen zerrissen an den Masten. Bewohner der höheren Stadtteile müssen sich ihr Wasser in tiefer gelegenen Straßen holen, da einige Hauptrohre geborsten sind. Das ausgebombte Landratsamt findet eine behelfsmüßige Unterkunft im Amtsgericht. Nur mit Improvisationen kann die Verwaltung die nötigsten Dinge erledigen. Die wichtige Abteilung „Fahrbereitschaft“ wird noch immer stark beansprucht. Ebenso ergeht es dem Ernährungsamt, das in den Wohnräumen seines Leiters Fritz Hesse in der Seminarstraße 35 weiterarbeitet.

Wie das OKW [Oberkommando der Wehrmacht] meldet, steht die Front wenige Kilometer südlich von Siegen, wo eine Verteidigungsstellung aufgebaut werden soll. Major von Hammerstein hat einen Befehl des Oberkommandos der Wehrmacht empfangen, wonach in jedem größeren Ort ein eigener Kommandant einzusetzen ist. Dieser muss dafür sorgen, dass sein Bereich unter allen Umständen und mit allen Mitteln verteidigt wird. Auf eine eigenmächtige Kapitulation steht die Todesstrafe. Studienrat Heinrich Rody, der Hauptmann ist, übernimmt dieses verantwortungsschwere Amt.

 

Karfreitag, 30. März 1945

"Pfadfindereinsatz" in der Todesstunde des Herrn

Gegen 13 Uhr startet auf einem alliierten Feldflughafen bei Cormeilles, 13 km nordwestlich von Paris, eine Formation von 24 amerikanischen "Marauders". Diese mittelschweren zweimotorigen Bomber vom Typ Martin B 26 gehören zur 344. Bombergruppe der 9. Bomberdivision in der Neunten amerikanischen Luftflotte. Der zweiten Kette der 495. Staffel fliegt das Leitflugzeug des Piloten Ehart voran. Zu den sechs Mann der Besatzung zählt auch der 41jährige MacKinlay Kantor, gebürtig aus Webster City (lowa). Als Kriegskorrespondent nimmt er im Sitz des Beobachters und MG-Schützen an diesem Einsatz teil, um Eindrücke für sein Kriegstagebuch zu sammeln.

Der Verband fliegt im Nordostkurs seinem Angriffsziel entgegen: einem Öllager in Bad Oeynhausen. Kurz hinter der Rheinlinie ‑ etwa bei Düsseldorf ‑ kommt über Funk der neue Einsatzbefehl: Die Maschinen sollen wegen schlechter Wetterverhältnisse über dem Hauptziel Kurs auf Olpe nehmen. Dort ist der im Frontbereich liegende Verkehrsknotenpunkt zu bombardieren. Dieser Flug besitzt aufgrund der schwierigen Geländeverhältnisse des Berglandes die Bedeutung eines so genannten "Pfadfindereinsatzes".

Der Schriftsteller Kantor ist froh über die Kurs‑ und Zieländerung. Nun wird er schneller als gedacht zurück nach Paris kommen können. Auf der kurzen Wegstrecke nach Olpe schießt die Flak, ohne jedoch zu treffen. Deutsche Jäger tauchen nicht auf. Kurz nach 14 Uhr nähert man sich dem Zielort. Olpe liegt unter einer leichten Wolkendecke, die hier und dort den Blick zur Erde durchlässt. Kantor öffnet die Bombenschächte, sieht, wie der Bombenschütze den Knopf drückt, und schaut zu, wie die todbringende Last ‑ schweren Bleiklumpen gleich ‑ zur Erde zischt. In Gedanken versetzt er sich in die kleine Stadt am Boden mit ihren spitzgiebligen Häusern und unglücklichen Bewohnern, mit ihren alten Frauen und Kindern, die in wenigen Augenblicken vom Krachen der Bomben verschlungen sein werden. Schmerzlich wird ihm klar, dass dieser Angriff keiner Industrieanlage gilt, sondern einer Stadt mit harmlosen Bürgern.

Olpe hat seit 13.16 Uhr Fliegeralarm. Der Angriff beginnt um 14.18 Uhr. In kaum mehr als einer Minute treffen 60 Zehnzentner‑ und vier Fünfzentnerbomben Stadtmitte und Peripherie. Flammen zucken, Erd‑, Stein‑ und Staubfontänen spritzen auf, Häuser zerbersten, Weideland und Straßen werden umgepflügt. Dann ist wieder Stille.

Zum Glück haben die relativ schweren Bomben, die im Gegensatz zu den vorgestern abgeworfenen eine große Tiefenwirkung besitzen, die Stadt nur punktförmig getroffen. Das Gebäude der "Deutschen Arbeitsfront" und das Haus Geschwister Schröder, Frankfurter Str. 22 und 20, liegen am Boden oder drohen einzustürzen. Zwei Bomben sind rückseitig tief in den Boden gedrungen und haben etwa 8 m tiefe Krater ausgehoben. Gebäudeteile wurden vom Fundament gelöst und empor gerissen, gleichzeitig Steine und Erdmassen in den Luftschutzkeller des Hauses gepresst. Wie ein großer Grabhügel wölbt sich hier über sechs Hausbewohnern das Gewirr aus Fachwerkwänden, Geschoßdecken, Hausratresten und Dachstuhlteilen. Die sperrigen Trümmer machen es den Bergungstrupps schwer, sich bis an die Eingeschlossenen vorzuarbeiten. Französische und russische Kriegsgefangene helfen fieberhaft mit. Trotzdem dürfte es noch viele Stunden dauern, bis die verschütteten zwei Männer und vier Frauen, die keine Klopfzeichen geben, geborgen sind. Die Technische Nothilfe erhält 18 Liter Schnaps zugewiesen. So lässt sich die bisweilen unsäglich schwere Arbeit, die die Helfer ohne Räumgerät durchführen müssen, ein wenig leichter ertragen.

Die seit Mittwoch schwer beschädigten, unbewohnten Häuser auf der "Mauer" sind bis auf zwei nun restlos zerstört. Ein tiefer Trichter gähnt am "Treppchen" nahe beim Hexenturmbunker. Mächtige Stücke der alten Stadtmauer sind heraus gebrochen und versperren jetzt den Aufgang zur Oberstadt. Gottdank ist der gut besuchte Bunker unversehrt geblieben! Nur zu leicht hätte er zur Todesfalle für viele werden können. Das Weiherohl gleicht einer  Kraterlandschaft, die meisten Häuser sind dem Erdboden gleichgemacht. Hinweggeschleudert wurde der kleine eiserne Steg über dem Olpebach, über den Fußgänger und "Renne" (Mühlengraben) ins Weiherohl gelangten. In diesem einst malerischen Altstadtwinkel gibt es heute keine nennenswerten Verluste, wohl weil hier seit vorgestern kaum noch jemand wohnen konnte.

Über die ganze Straßenbreite hat eine Bombe in der Martinstraße ‑ Nähe Kaiserhof ‑ ein brunnentiefes Loch gerissen. Die wackligen Reste der Häuser Heidrich (Nr. 22) und Wagner (Nr. 20) haben nur noch Abbruchwert. Eine gleichermaßen schwere Verkehrsbehinderung hat ein Treffer auf der Kreuzung Bahnhof‑, Bruch‑ und Franziskanerstraße geschaffen, einen Trichter, in den man ein Haus stellen könnte. Die nahe Olpebachbrücke wurde um mehrere Zentimeter aus ihrer Lage verschoben. Haus Clemens, Bahnhofstraße 18, liegt mit seiner Vorderseite im Bachbett der Olpe.

Die Häuser Wendland und Stühler am Stötchen (Nr. 11 und 13), wo es drei Tote gab, sind total zerstört worden. Größtenteils unbewohnbar wurden die umliegenden Gebäude. Auf diesen Stadtbezirk fielen überhaupt die meisten Bomben. Während die Stadtmitte 12 Treffer erhielt, explodierte am Stötchen die doppelte Menge. Die restlichen Bomben ‑ das war die Minderzahl trafen das Wiesengelände westlich vom Elber Weg in Richtung zur Waldgrenze des Kimicker Berges. Sie richteten lediglich Flurschäden an. Einzelwürfe wühlten die Gärten am Eingang der Maria‑Theresia‑Straße, Nähe Feuerwehrplatz, auf.

Jagdbomber kreisen bis 16 Uhr über dem Raum Olpe, doch ohne die Stadt anzugreifen. Im Rahmen einer groß angelegten Flugblattaktion über dem rheinisch‑westfälischen Gebiet wird auch hier alliiertes Propagandamaterial abgeworfen und zwar von Flugzeugen der 394. Bombergruppe aus der Neunten US‑Luftflotte.

Der Abend bricht herein und löscht das Licht der leidvollen Stunden dieses Karfreitagnachmittags. Zu anderen Zeiten beteten Gläubige den Kreuzweg und gedachten des bitteren Todes Christi. Heute aber mussten sie Augenblicke von Angst und Vernichtung selbst und unmittelbar miterleben. Die Bilanz dieses Tages nennt neun getötete und zehn schwer verletzte Menschen. Neun Häuser wurden total, 16 schwer und 80 mittelschwer oder leicht zerstört.

In Paris hat mittlerweile der amerikanische Kriegsberichterstatter und zeitweilige Flugzeugbeobachter MacKinley Kantor sein Hotel aufgesucht und sich früh zur Ruhe gelegt. Er kann sein Erlebnis vom frühen Nachmittag nicht vergessen. Der jähe Tod einiger deutscher Zivilisten peinigt ihn. Sogar im Traum wird er umringt von diesen blutigen Deutschen, so dass er aufwacht. Erst als ihm ein befreundeter englischer Frontberichter, der mit ihm das Zimmer teilt, von der Todesernte einer einzigen deutschen V 2 in London erzählt hat, schwinden alle Gewissensbisse. Der Hass auf den Gegner lässt kein Mitleid mehr mit jenen fernen "sagenhaften Deutschen in Olpe" aufkommen.

 

Ein Kirchturm fällt

Beim Angriff am Mittwoch ist im Südwestturm von St. Martin in Höhe der Schallöcher eine Bombe explodiert. Ihre Sprengkraft hat den südwestlichen Stützpfeiler herausgerissen. Bei Nordwind droht Einsturzgefahr. Kurz vor Mittag treffen sich auf dem Marktplatz Pfarrer Menke, Erster Beigeordneter 1. Müller und Dr. Paul Heuell vom Kirchenvorstand sowie der Leiter der TN, der Bauingenieur Josef Feldmann. Man überlegt, was mit dem angeschlagenen Turm geschehen soll. Feldmann weist auf die verbogenen Armierungseisen und das leichte Schwanken des Bauwerks hin. Der Pastor glaubt trotzdem, dass der Turmhelm noch genügend standfest ist. Eine andere Meinung vertritt der Statiker Feldmann. Vor etwa 10 Jahren hat er beide Kirchtürme durch Eisenbeton verstärken lassen und ist somit bester Sachkenner. In normalen Zeiten wäre es vielleicht möglich, mit 25 oder 30 Arbeitskräften zwei Wochen lang ein Gerüst zu bauen, um die große Tonnenlast des Turmaufbaus mit schweren Stützen abzufangen. Jetzt aber steht ‑ laut Wehrmachtsbericht ‑ die Front bei Siegen, und tagtäglich kann Artilleriefeuer einsetzen. Genügend Facharbeiter sind noch Feldmanns Worten nicht zu bekommen, ebenso wenig Gerüstholz. Außerdem würde die Arbeit durch ständige Fliegergefahr und plötzlichen Windwechsel zu einem unverantwortlichen Risiko werden. Der Turm gleiche nämlich, wie der Baufachmann sagt, 'einem vierbeinigen Tisch, dem eine Stütze genommen wurde und jederzeit umkippen kann. Feldmann muss sich also, wenn auch schweren Herzens, für die Sprengung des Turmes einsetzen. Nur zu leicht könnten bei einem plötzlichen Einsturz Menschen getötet oder verletzt werden. Pastor Menke vermag sich nur schwer mit dieser Verstümmelung abfinden, doch das Wort des Sachverständigen geht im Augenblick vor jedes noch so berechtigte Gefühl. Das nächste Sprengkommando der TN liegt bei Werdohl und bleibt momentan unerreichbar. Daher sollen sich Dr. Heuell und I. Müller bei der Kreispolizei oder Wehrmacht erkundigen, wer die Sprengung durchführen kann.

In Rhode werden Pioniere gefunden und mit der Sprengung beauftragt. Gegen 18 Uhr besteigt der kleine Trupp unter Führung eines Leutnants das Fenstergeschoß des Turmes, der den Angriff vom Mittag anscheinend gut überstanden hat. Eine halbe Stunde später sind die Soldaten wieder unten und lassen die Häuser der unmittelbaren Nachbarschaft räumen. Um 18.50 Uhr blitzt ein roter Feuerball aus den Turmfenstern, es knallt dumpf ' Mauerwerk platzt knirschend ... Dann reißen 75 kg Sprengstoff den etwa 35 m hohen Turmaufbau aus seiner Verankerung in die Tiefe. Im Folgenden zerstört er Teile des Kirchendaches, des Gewölbes und die Orgel. Auch durchschlagen Bruchsteine benachbarte Dachstühle. Pioniere mit besseren statischen Kenntnissen hätten die Sprengsätze nicht am Südostpfeiler allein angebracht, sondern um alle drei Stützen gelegt. So aber hat der Turm einen Schub nach rückwärts erhalten und ist ‑ statt auf freies oder schon zerstörtes Gelände in Richtung Kölner Straße ‑ auf den bisher unbeschädigten Teil des Langhauses gefallen.

Das dumpfe Poltern im Kirchenschiff hört schnell auf. Langsam verzieht sich die Spreng‑ und Staubwolke. Den Stumpf des Zwillingsturmes überragt nunmehr ‑ als alleinige Dominante der Stadtsilhouette ‑ der unversehrte Nordwestturm. Gleichsam als mahnender Finger steht er in der Dämmerung dieses Karfreitagabends über Olpe und seinen Bewohnern.

 

 

Karsamstag, 31. März 1945

Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt: "Südlich Siegen und an den Ostausläufern des Rothaargebirges stehen unsere Truppen in erbitterten Abwehrkämpfen mit den nach Norden angreifenden amerikanischen Verbänden." Wie eine Gewitterwolke schiebt sich die Front heran. Voll banger Erwartung sitzt man in Kellern und Bunkern. Eine Gruppe von Menschen verlässt die Stadt und sucht Unterschlupf in Jagdhütten oder bei Bekannten auf dem Land. Besonders die Stadtmitte gilt nach den letzten Angriffen als lebensgefährlich und wird daher gemieden. Und hier bietet sich das Bild einer Geisterstadt: ausgehöhlte Gebäude, erloschene Fassaden, mit Splitterlöchern übersäte Hausmauern, die wie verwundete Leiber aussehen; zwischen den einsamen, entseelten Straßen der Unterstadt liegen Hügel zermürbter Trümmer und wirre Gebilde aus verbogenem, ausgeglühten Blech und Eisen. Im halbwegs unversehrten Wohngebiet ringsum gibt es keine heilen Fensterscheiben; die Dächer sind von Ziegelbrocken und Bruchsteinen durchlöchert worden, Schiefer und Pfannen davon gesegelt, lehmiger Staub bedeckt die Straßen.

Inzwischen laufen ‑ bei günstiger Luftlage ‑ die letzten Vorbereitungen für die Beisetzung der vielen Bombenopfer. Pastor Menke und der Erste Beigeordnete Ignatz Müller bemühen sich um die rasche Fertigstellung des Massengrabes, an dem 15 russische Kriegsgefangene bei Sonderrationen von Brot und Schnaps fast pausenlos arbeiten. Auch eine Anzahl von Familiengräbern wird ausgehoben. Schwieriger ist die Beschaffung der über 150 Särge. Hierfür setzt sich vor allem Stadtbauführer Johann Hüpper ein. Die Stadtverwaltung trifft mit dem Sägewerk Peter Heuell folgende Obereinkunft: Firma Heuell liefert eine bestimmte Ladung Fußbodenbretter, wofür sie später die gleichwertige Menge Rundholz aus städtischem Besitz zurückerhalten soll. Olper Schreiner zimmern nun in großer Eile rohe, fast flache Fichtenkisten, unter die sie je zwei Kanthölzer als Traggriffe schlagen. Mitglieder der Organisation Todt, die in Ronnewinkel bei Heuell eingesetzt sind, helfen mit. Kriegsgefangene Franzosen übernehmen die Aufgabe, die Leichen einzusargen und die Kisten zu vernageln. Jeder Sarg erhält einen Namenszettel, um Verwechslungen auszuschalten. Einige Tote, die man in den niedergebrannten Häusern ausgegraben hat, brauchen keine Särge. Was von ihnen übrig blieb, hat leicht in einem Kästchen Platz. Vom Krankenhaus, wo die meisten Opfer auf dem nackten Pflaster vor der Kapelle aufgebahrt liegen, wird die traurige Fracht auf Lastwagen, Pferdefuhrwerken und Handwagen zum Friedhof geschafft. Dort, auf dem Fußboden der Rochuskapelle, liegen einige verstümmelte, entstellte Körper und Leichenteile. Da sie niemand identifizieren kann, wird man sie als Unbekannte bestatten müssen. Der für diesen Morgen um 6 Uhr im Schwanensaal geplante "Trauerakt der Partei" ist abgesagt worden. Die Hinterbliebenen können in dieser Lage auch wohl kaum mit Vokabeln wie "Luftgangstertum" und "Heldentod" getröstet werden. Zudem wäre eine derartige Massenveranstaltung wegen der jederzeit möglichen Luftangriffe zu riskant.

Im Laufe des Tages hat Pastor Menke an der Kirche und am Pfarrhaus, an Straßenbäumen und Türen von Kapellen und Bunkern maschinen geschriebene Zettel anheften lassen. Auf ihnen gibt er nähere Einzelheiten Ober die Gottesdienstordnung an den Ostertagen und die Termine der Beerdigung von Bombenopfern bekannt. Am Vortag sind bereits drei dieser loten bestattet worden. Heute, bei anbrechender Dunkelheit, versammeln sich alle Geistlichen auf dem Friedhof, um 12 Opfer in den Familiengruften beizusetzen. Beim schwachen Schein von Taschenlampen werden Gebete gesprochen, die Särge versenkt und die Gräber gesegnet.

 

Ostersonntag, 1. April 1945

Im Raum Siegen haben sich die feindlichen Kräfte laufend verstärkt, während die Lücken der eigenen Truppen nicht mehr aufgefüllt werden können. Der Ring um die Heeresgruppe hat sich im Raum Paderborn‑Lippstadt geschlossen.

Traurig‑ernst beginnt dieser erste Ostertag in Olpe: statt des jubelnden Alleluja hoher Christenfreude ‑ Stunden voll Gram und Schmerz. Gegen 6 Uhr versammeln sich auf dem Friedhof Pastor Menke, die Vikare F. Filthaut und Vonnahme, zwei Messdiener, Mitglieder von Partei und Verwaltung sowie wenige Dutzend Menschen, deren Angehörige jetzt zur letzten Ruhe gebettet werden sollen. Die Zeit drängt, mit zunehmendem Tageslicht wächst die Fliegergefahr. So beginnt der Pfarrer mit der Einsegnung der mehr als 100 Särge, die in der großen Grube oder noch davor stehen. Dann wendet er sich mit kurzen, eindringlichen Worten an die Umstehenden.

Am Palmsonntag habe ich in der Kirche gesagt: Wir stehen am Beginn der Leidenswoche des Herrn, die auch voraussichtlich uns eine Leidenswoche werden wird, ‑Meine Ahnung hat sich erfüllt. Eine furchtbare Katastrophe ist am 28. März über uns hereingebrochen. Die kirchliche Feier der Karwoche wurde unmöglich, die feierlichen Zeremonien wurden nicht gehalten, die Lamentationen des Propheten Jeremias konnten nicht gesungen werden, ‑ sie wurden Wirklichkeit unter uns: Wie ist sie so einsam die Stadt, die Mauern sind zerstört, auf den Straßen und Plätzen liegen erschlagen ihre Söhne ... 0 ihr alle, die ihr vorübergeht, habt acht und seht, ob ein Schmerz gleich sei meinen Schmerzen . . .' Tiefe Trauer erfüllt uns alle, inniges Mitleid mit den Angehörigen der vielen Toten, die nun in diesem Grabe geborgen werden sollen. Ihnen gilt unsere Teilnahme. Wir klagen mit ihnen über so viel Leid und Weh, aber wir klagen auch an: den Geist, der dieses Unglück und Leid verschuldet hat. Mancher klagt Gott an, aber mit Unrecht. Wenn die Menschheit Gottes Gebote befolgt hätte, stünden wir jetzt nicht hier. ‑ Wir suchen Trost, und als Christen finden wir ihn im christlichen Glauben, in der Botschaft des heutigen Ostertages: Christus ist auferstanden! Ich weiß, an wen ich glaube! Auch diese unsere Toten werden wieder auferstehen! Es gibt ein Wiedersehen im Himmel! Dort wird Gott abwischen alle Tränen von unseren Augen, der Tod wird nicht mehr sein, noch Klage, noch Trauer, noch Schmerz!"

Während der Pastor spricht, legen Bürgermeister Wurm und Kreisleiter Hänel ihre Kränze am Rande des Massengrabes nieder. Dann gehen sie still davon. Gärtner Kramer bedeckt jeden Sarg mit einigen Tulpen. Nach den Schlussgebeten kehrt die kleine Trauergemeinde zur Stadt zurück. Dort finden in Kellern und Bunkern Osterfeiern statt. Um die bescheidenen Altäre in den spärlich beleuchteten Felshöhlen drängen sich die Menschen und suchen Kraft im hl. Opfer. Da Beichten für alle unmöglich wäre, wird die Generalabsolution erteilt. Groß ist die Zahl derer, die zum Tisch des Herrn treten. Diese Augenblicke sind erschütternd, sie beschwören jene Zeit der frühen Christen herauf, die in ähnlichen Situationen Gott um Schutz und Zuversicht anflehten.

Eine solche Morgenstunde nimmt dem Tag viel von seiner trostlosen Düsterkeit. Die Stunden verrinnen eintönig. Am frischen Frühlingshimmel zeigen sich kaum Feindmaschinen, die Luft bleibt ruhig.

 

Ostermontag, 2. April 1945

Auch heute feiern in den neuzeitlichen Katakomben wieder zahlreiche Gläubige mit "ihrem Bunkerpriester" das heilige Messopfer und suchen Trost in der hl. Eucharistie. Der elektrische Strom versagt meistens. So müssen Karbidlampen und Kerzen ihr schwaches Licht verbreiten. Erwachsene versuchen zu lesen, Kindern fällt das Stillsitzen schwer. Die NSV [Nationalsozialistische Volkswohlfahrt] verteilt an ständige Stollenbewohner Milchspeisen, Butterbrote, Süßigkeiten und andere Schätze ihres Lagerbestandes, die nicht in Feindhände fallen sollen. Stachelauer Bauern liefern die Milch für alte Leute und Kleinkinder. Vereinzelt wird auch auf primitiven Feuerstellen vor den Bunkern gekocht, ‑wenn die Luft fliegerfrei ist. Die sanitären Verhältnisse sind ungenügend: kranke oder alte Leute müssen vor aller Augen ihre Notdurft verrichten. Draußen aufgestellte Abartkübel starren vor Schmutz. Waschgelegenheiten gibt es nur in den umliegenden Häusern. Dass bei diesen mangelhaften hygienischen Zuständen noch keine Krankheiten ausgebrochen sind, scheint wie ein Wunder. Jedenfalls ist die Bunkerluft oftmals unerträglich schlecht.

Erstaunlich, dass die gewohnten Einzelflugzeuge ausbleiben! Der Himmel über Olpe ist ruhig. Gestern also haben sich bei Paderborn die Erste und Neunte US‑Armee getroffen. Damit ist der lang befürchtete Ruhrkessel geschaffen. Über den Oberbefehlshaber West trifft ein Führerbefehl ein, wonach alle Ausbruchsversuche vonseiten der umzingelten Heeresgruppe einzustellen sind. Model soll das Ruhrgebiet mit den ein geschlossenen Randbezirken im Süden als "Ruhrfestung" ausbauen und verteidigen. Er ist mit sofortiger Wirkung dem OKW direkt unterstellt. Das an sich durch seinen Mittelgebirgscharakter für Verteidigungszwecke gut geeignete Gebiet besitzt eine Ausdehnung von etwa 120 km im Durchmesser. Aber nur dann kann dieser Kessel dem feindlichen Druck widerstehen, wenn der Nachschub gewährleistet ist: Verpflegung für Truppe und Bevölkerung, Munition, Gerät und Betriebsstoff. Doch scheint die Versorgungsfrage allein nicht ausschlaggebend zu sein. Denn Moral und Kampfeswille sind erheblich geschwächt. Die Sinnlosigkeit des Krieges zu diesem Zeitpunkt sieht fast jeder ein und will mit möglichst heiler Haut davonkommen. ‑Den Kampfabschnitt Siegen übernimmt die 12. Volksgrenadierdivision unter Generalmajor Gerhard Engel. Sie gehört dem LVIII. Korps der 5. Panzerarmee an. Auch die 59. VG‑Division wird eingeschoben. Ihnen gegenüber stehen die 1. und 8. amerikanische Infanteriedivision. In und um Siegen finden heftige Kämpfe statt.

 

Dienstag, 3. April 1945

Im Raum Betzdorf‑Siegen verstärkt sich der feindliche Druck, trotz der Gegenangriffe der 12. VG‑Division. Die Entwicklung der Gesamtlage nimmt an Tempo zu. in Olpe hört man jetzt deutlich Kanonendonner aus südlicher Richtung, sein Schall bricht sich in den Bergen. Gelegentlich kreisen Nahaufklärer über der Stadt. Einmal bestreicht eine tief fliegende Maschine das Bahngelände mit einer kurzen Salve ihrer Bordkanonen. Sonst ist es ‑ im Vergleich zu den vorausgegangenen Wochen ‑ sehr ruhig. Auf dem Friedhof werden wieder Särge in die Erde gesenkt. Es sind Bombenopfer, deren Verletzungen so schwer waren, dass ihnen die Kunst der Ärzte nicht mehr helfen konnte. Fünf Menschen haben auf dem evangelischen Friedhof an der Bergstraße ihre letzte Ruhestatt gefunden.

 

Mittwoch, 4. April 1945

 Der Gefechtsstand der Heeresgruppe B wird von Neuenkleusheim nach Rhode verlegt. Model selbst besitzt kein festes Quartier, obwohl man ihn kurzzeitig auch bei Heinrich Würde in Rhode sieht. Am liebsten hält er sich wohl in seinem Wohnwagen auf, in dem er in der Nacht zum 29. März Reichsminister Speer und Generalfeldmarschall Kesselring zu einer Lagebesprechung empfangen hat. ‑ Der Gegner erzielte bei Siegen zwei Einbeulungen. In Olpe liegen die Straßen wie ausgestorben, nur gelegentlich zieht Militär durch. Nicht weit von der Stadt gehen die ersten Granaten nieder.

Das Kreisernährungsamt konnte die Lebensmittelkarten der 74. Zuteilungsperiode in der Berleburger Druckerei nicht mehr abholen, weil inzwischen die Frontlinie den Weg versperrt hat. Nun muss sie die Olper Firma Marx drucken. Brot und andere Lebensmittel kommen nur morgens und abends zum Verkauf. Die Milchanlieferungen aus den umliegenden Dörfern gehen wegen der schwierigen und gefährlichen Transportverhältnisse von Tag zu Tag zurück. Unter Aufsicht und Verantwortung des 'jeweiligen Ortskommandanten dürfen alle im Kreis befindlichen Lebensmittel‑, Textil‑, Schuh‑ und Spirituosenlager der Wehrmacht für den allgemeinen Verkauf freigegeben werden.

 

Donnerstag, 5. April 1945

Nach neuesten Meldungen hält die Kesselfront an keinem Abschnitt mehr. Es kommt kaum noch zu regulären Gefechten. Zwar hat der Gegnerrund 300.000 Mann unter großen Opfern im Ruhrkessel gefangen und von der Außenwelt abgeschnitten, doch will er diese Insel ohne fühlbare Verluste erobern. Ein zweites Stalingrad ist nicht geplant. In Siegen scheint sich die Front zu versteifen. Laut Wehrmachtsbericht sind einzelne Einbrüche abgeriegelt worden.

Truppenteile verschiedener Herkunft und Stärke liegen vorwiegend in den Wäldern und meiden die Ortschaften. Sie gehören zur 5. Panzerarmee. Generalmajor Engel, ehemals Adjutant des Führers, nun Befehlshaber der 12. VG‑Division, hat sein Quartier bei Familie Ebbert in Saßmicke aufgeschlagen. In Olpe trifft eine Artilleriegranate ‑ist es die erste im Stadtgebiet? ‑ das alte Professgebäude des Mutterhauses. Die Bürger der Stadt harren in ängstlicher Spannung der kommenden Tage. Niemand hat Mut zur Feld‑ und Gartenarbeit. Im Stillen gelobt man sich, monatelang nur trockenes Brot zu essen, wenn man das nackte Leben retten kann. Die wenigsten Menschen können sich vorstellen, wie das ist, wenn die Front über Olpe rollt.

 

Freitag, 6. April 1945

Endlich kommt Bewegung in die Front um Siegen. Die schwer zerstörte Stadt ‑ 20 Autominuten entfernt ‑ wurde erobert. Letzte Kämpfe in den Außenbezirken sind eingestellt worden. Nun heißt die nächste Stadt Olpe!

Frühmorgens rüstet der Stab Models zum Aufbruch. Zwei Wochen sind vergangen, seit er sich mit 50 Personen im Wehrmeldeamt und einigen Häusern der Seminarstraße einquartiert hatte. Mehrfach waren hier zusammenfassende Lageberichte für das OKW aufgestellt und über das Olper Fernamt nach Berlin weitergegeben worden, weil die regulären Heeresvermittlungen häufig ausfielen. Heute also baut man das Gerät ab und verstaut Telefone, Fernschreiber und Funkeinrichtungen auf Lastwagen. In Schalksmühle bei Lüdenscheid soll anderntags das neue Hauptquartier der Heeresgruppe eingerichtet werden. Der kurzfristig gehegte Plan, den Olper Raum als Stützpunkt des südlichen Kessels auszubauen, wobei Berge und Wälder den natürlichen Festungswall bilden sollten, ist nun wohl aufgegeben. ‑ Um 9.30 Uhr fliegen einzelne Ari‑Granaten in die Stadt und treffen die Gegend am Hohen Stein. In manchen Häusern werden die Öfen mit Akten, Büchern, Hitlerbildern, Uniformteilen, Fahnen und anderen Zeugen des Dritten Reiches gefüttert. Was nicht verbrennt, verschwindet auf Abfallhaufen und in Bombentrichtern.

 

Samstag, 7. April 1945

Amerikanische Streitkräfte haben die Truppen der 5. Panzerarmee von der Sieg bis zur Linie Waldbröl‑Freudenberg abgedrängt. Hünsborn, Rothemühle und Wenden liegen unter Artilleriefeuer. Am Nachmittag wird auch Olpe wieder von weitreichenden Geschützen beschossen: 10 Granaten schlagen am Kimicker Berg, eine am Güterbahnhof ‑ 20 Meter vom Stellwerk entfernt ‑, eine in die Bruchstraße Nahe Kölner Hof, eine bei Lütringhausen ein. Besondere Schäden sind nicht eingetreten. Aufklärer kreisen während des ganzen Tages über dem Stadtgebiet.

In Grevenbrück findet spätnachmittags in der Gastwirtschaft Otto Börger eine Sitzung statt. Beamte vom Kreisernährungsamt und eine Anzahl der Ortsbauernführer haben sich versammelt, um mit der Wehrmacht über die künftige Versorgung der Bevölkerung zu verhandeln. Der Vorschlag, die Zivilversorgung der militärischen zu unterstellen, findet Gehör. Damit scheint eine Hungersnot für den Augenblick gebannt. ‑ Gestern haben amerikanische Truppen die östliche Kreisgrenze in der Rüspe überquert. Heute um 12 Uhr besetzten 300 Mann den Rhein‑Weser‑Turm.

 

Weißer Sonntag, 8. April 1945

Seit Palmsonntag, als die Luftlage bedrohlich wurde, stand es fest, dass die sonst üblichen Erstkommunionfeiern aufgeschoben werden mussten. Wie an den Ostertagen finden auch heute wieder Bunkermessen statt. Nach einem neblig‑kalten Morgen scheint warm die Sonne. Der Frühling will Einzug halten. Noch ist der Himmel fliegerrein, der Kanonendonner abgeebbt. Doch bald steigen die ersten Frontaufklärer über den Horizont. Auch der Straßenlärm nimmt zu. Im Haus des Elektromeisters Willi Pappe, Kölner Str. 21, haben sich alle Bewohner im Keller zusammengeschart. Sie schaffen Schlafgelegenheiten herbei, einzelne bereiten das Mittagessen vor. Gegen 11.30 Uhr durchbebt ein schmetterndes Krachen das Haus. Die 12 Personen im Schutzraum fahren erschrocken zusammen. Ihr erster Gedanke: eine Bombe! Doch bald entdecken sie den Schaden. Eine einzelne Fernartilleriegranate ‑ vermutlich in Kreuztal abgeschossen ‑ ist durch das Dach und vier Stockwerke geschlagen und im Erdgeschoß von einer T‑Eisenschiene abgebremst worden. Die Granate hat die Schiene herab gebogen und ist schließlich bei der Haustür an der Brandmauer zwischen Pappe und Löser explodiert. Von der Detonationswelle sind Innenwände eingedrückt, Fenster und Türen herausgeschleudert worden.  Wunderbarerweise wurde kein Mensch getötet oder verletzt. Ähnliche Geschosse haben Haus Sondermann an der Kardinal-von-Galen-Straße 10, Haus Hardenacke an der Maria‑Theresia‑Straße 6, getroffen sind beim Schlachthof und am Bahnhof niedergegangen und explodierten auf dem Gelände des Mutterhauses.

Militärkolonnen mit Sanitätswagen durchziehen die Stadt. In der Landwirtschaftsschule auf dem Gallenberg wird ein provisorischer Hauptverbandsplatz eingerichtet. Auch im Finanzamt liegen Soldaten. Das nahende Ende zeichnet sich ab. Trotzdem sollen nach dem Willen der Truppenkommandeure alle halbwegs wehrfähigen Männer zwischen 16 und 60 Jahren eingesetzt werden. Feldgendarmerie fahndet nach desertierten Soldaten. Wegen angeblicher Fahnenflucht werden am Nachmittag am Fuß der Rhonard ‑ einige hundert Meter südlich von Lütringhausen ‑ vier Soldaten erschossen und sofort verscharrt. Einer von ihnen war Vater von fünf Kindern. Dieser Vorfall ruft bei der Bevölkerung große Empörung hervor. Leider ist man den fliegenden Standgerichten gegenüber machtlos.

 

Montag, 9. April 1945

Gestern hat ‑ laut Wehrmachtsbericht ‑ die Schlacht am Nordrand des Ruhrgebiets, an der Siegfront und im Rothaargebirge an Heftigkeit zugenommen. "Unsere Divisionen verhinderten überall den vom Feind erstrebten Durchbruch."

Wie während der Nacht so grollt auch heute der Geschützdonner bedrohlich nahe. Sind es Abschüsse oder Einschläge? Man tut gut daran, die Durchgangsstraßen zu meiden. Nur zurückflutende Militärverbände beherrschen das Stadtbild. Sie ziehen seit 13 Uhr durch. Eine deutsche Kampfgruppe, die von Kreuztal durch die Günse gekommen ist, marschiert in Richtung Drolshagen, um sich dort festzusetzen.

15 Uhr: Bagagekolonnen ziehen in Richtung Attendorn. Deutliches Maschinengewehrfeuer lässt die nahende Front ahnen. Gerüchte kursieren: Rings um Olpe sollen Stellungen ausgebaut, an den Ortseingängen Panzersperren angelegt werden. Das Allheilmittel Panzerfaust lagert in ausreichender Menge im Schützenzelt auf dem Imberg.

Nachmittags: Im Haus Coeßmeyer, Seminarstraße 33, treffen Bürgermeister Josef Wurm, Stadtoberinspektor Paul Habbel und andere Bürger zusammen, um die Lage zu besprechen. Dem Bürgermeister und seinen Gesprächspartnern geht es darum, Olpe aus der Verteidigung auszuschalten und damit vor weiteren Verlusten und Zerstörungen zu bewahren. Die Parteistellenleiter haben eine gegenteilige Meinung geäußert. Obwohl sie schon ihre Sachen gepackt haben, um sich auf angeblichem Befehl des Gauleiters nach Norden abzusetzen, glaubten sie sich kompetent, den Bürgermeister durch Drohungen umzustimmen. Das 45jährige Stadtoberhaupt ‑ seit sieben Jahren Amtsbürgermeister von Wenden, seit zwei Jahren in der Stellung des von Olpe abgeordneten Bürgermeisters Theodor Schulte ‑ hofft, dass man den Kampf um die Stadt verhindern könnte, wenn die militärischen Stellen Olpe als Lazarettstadt, d. h. als "offene Stadt" deklarieren würden . Mit diesem Plan verlässt Wurm die Seminarstraße und spricht im Finanzamt vor. Dort sitzt der Truppenkommandant Major Kramer, der sich bereit erklärt, das Gebäude unter bestimmten Voraussetzungen für Lazarettzwecke zu räumen. Weitere Eingeständnisse darf er im Augenblick nicht machen. Er ist nämlich ‑ neben dem Stadtkommandanten Rody ‑offiziell dafür verantwortlich, dass Olpe in den Verteidigungszustand versetzt wird.

15.30 Uhr: Major Kramer betritt den Keller des Rathauses und unterstellt die wenigen noch verbliebenen Polizisten dem Befehlsbereich der Wehrmacht. Polizeileutnant Wegmann hat mit seinen Leuten bestimmte Posten im Stadtbezirk zu beziehen mit dem Auftrag, die Straßen für einen ungehinderten Rückzug von jeglichen Hindernissen freizuhalten und den durchziehenden Einheiten Auskünfte über das örtliche Verkehrsnetz zu erteilen.

16.15 Uhr: Über Olpe kreisen Aufklärer. Offenbar beobachten sie die Truppenbewegungen und geben Positionsmeidungen an ihre im südöstlichen Teil des Kreises stehenden Batterien. Denn nun beginnt der direkte Angriff auf Olpe. Im Gegensatz zu den Einzelgranaten an den Vortagen setzt jetzt ein andauerndes Artilleriefeuer auf die Stadt ein. Mitglieder der Technischen Nothilfe, die am Hohen Stein Lichtleitungen flicken, können von ihrem erhöhten Standort aus den Abschuss der Granaten wahrnehmen, hören die Geschosse über ihre Köpfe hinweg pfeifen und sehen im Gebiet Imberg‑Hatzenberg die Explosionswolken aufsteigen. Wie sie beobachten, besteht mindestens die Hälfte der niedergehenden Granaten aus Blindgängern. Über der Ortschaft Rhonard steigen Rauchsäulen einer größeren Brandstätte auf. Hier und da rattern und tackern MG‑Salven.

17 Uhr: In den beiden Luftschutzräumen des Amtsgerichts haben 20 bis 30 Personen Schutz gesucht. Plötzlich ein ohrenbetäubender Krach, ein unheimliches Dunkel und schrille Hilferufe. Eine 21 cm‑Granate ist durch ein Fenster im ersten Stock geflogen, hat zwei Decken durchschlagen und den Luftschutzkeller getroffen. Dort ist sie nicht detoniert. Mit unheimlicher Wucht hat jedoch der Blindgänger Steinbrocken aus der Kellerdecke gerissen und auf eine Anzahl von Menschen geschleudert. Vier Menschen sind tot: Heinrich Beckmann und Tochter Irmgard und die Kinder Günter Bartmann und Eva Thöne. Mehr oder minder schwer verletzt wurden 13 Personen.

17.30 Uhr: Das Schießen verstummt. Genau 75 Minuten hat die Kanonade gedauert. In einer Schussfolgezeit von weniger als einer Minute haben rund 100 Granaten das nordöstliche Stadtgebiet getroffen. Das ganze war ein schlecht geleitetes Streufeuer. Daher sind die Schaden verhältnismäßig gering. Am Imberg haben Granaten eine Säule am Gebäude des Wehrmeldeamtes zerstört, andere explodierten auf dem Friedhof. Häuser in der Imbergstraße, Schützenstraße, Seminarstraße, in der oberen Westfälischen Straße, Kortemicke und Rochusstraße sind getroffen, doch meist nur leicht beschädigt worden. Wahrend des Artilleriebeschusses sind Soldaten ‑ mangelhaft bewaffnet ‑ durchgezogen. Diese Truppen waren vorgestern von Eslohe nach Olpe gekommen, um weiter nach Müsen zu gelangen. Nun mussten sie umkehren und sich nach Drolshagen zurückziehen. Ihnen sind Kolonnen ausländischer Arbeiter, die bei Rhonard noch geschanzt haben sollen, gefolgt.

Nach 17 Uhr: Der zuständige Divisionskommandeur, Generalmajor Engel, verlässt die Front um Olpe.

Gegen 18 Uhr: Zurückflutende Truppen melden, dass Altenkleusheim schon besetzt sei und die amerikanische Panzerspitze in etwa einer Stunde in Olpe eintreffen werde. Zur gleichen Zeit rast der letzte Meldefahrer zum "Gefechtsabschnitt Rhonard", kommt aber schnell zurück. Seine Meldung konnte er nicht mehr anbringen. Die Dinge scheinen sich nun zu überstürzen.

18.30 Uhr: Ein kurzer Ari-Beschuss fordert bei der Stadtmühle einige Verwundete. Weitere Granaten treffen das Bahngelände und die Bahnhofstraße. Hier auf der Kreuzung beim Kölner Hof, wo der große Bombenkrater vom Karfreitag einen Engpass geschaffen hat, bemühen sich Wachtmeister der Hilfspolizei Albrecht Haas und Landwehrmann Heinrich Reperich, den Rückzugsverkehr durchzuschleusen.

19 Uhr: Fronttruppen flüchten durch die Stadt und setzen sich in der Gegend Kimicker Berg‑Bruchstraße fest.

19.30 Uhr: Ein fliehender deutscher Panzer dringt in die Günse vor, kommt bis zum Steinbruch, wo er sich mit der amerikanischen Vorhut in ein kleines Gefecht einlässt. Nach höchstens fünf Schüssen gibt es einen toten Amerikaner und mehrere Verletzte auf beiden Seiten. Der von einem Ritterkreuzträger geführte Panzer dreht ab zur Fahrt und  weiter zur Kortemicke. Dort macht ihn die Besatzung gefechtsunfähig. Ein anderer Panzer wird in der Martinstraße in der Nähe des Kaiserhofs gesprengt. Er war in einen Bombentrichter gefahren und stecken geblieben.

20.15 Uhr: Zu beiden Seiten der Baumreihen der Günsestraße nahen amerikanische Fußtruppen, die zweimal von der Fahrt aus beschossen werden. Die Amerikaner halten an und setzen sich in der Günsestraße vorerst fest. Inzwischen sind deutsche Truppen über die Martinstraße, Bahnhofstraße am Kölner Hof vorbei durch die Franziskanerstraße zur "Wüste" in Richtung Drolshagen abgezogen. Nachhuttruppen räumen ihre Stellung am Hohen Stein. Gelegentliche Stöße aus Maschinengewehren begleiten ihr Rückzugsmanöver.

21 Uhr: Nebelgranaten fliegen in die Kölner Straße und auf den Imberg und hüllen ganze Stadtteile in milchig‑dichte Nebelschleier.

21.15 Uhr: Amerikanische Vorausabteilungen besetzen einzelne Häuser der Maria‑Theresia‑Straße, um hier den Morgen abzuwarten. Stoßtrupps schieben sich in Richtung Eichhardt und Kimicker Berg vor.

22 Uhr: Für Wachtmeister Haas ist der Ordnungsdienst am Kölner Hof vorbei. Die Straßen werden ruhig. Haas geht zum Rathaus und stellt fest, dass die Kollegen von der Polizei auf und davon sind. Er beschließt, über Nacht dort im Keller zu bleiben.

23 Uhr: Auf einem Motorrad biegen ein deutscher Major und ein Feldwebel, aus der "Wüste" kommend, in die Franziskanerstraße ein. Sie wollen die Lage auskundschaften. Da erhält der Feldwebel durch einen Granatsplitter eine tödliche Bauchverletzung. Allein und zu Fuß macht sich der Major auf den Rückweg zu seiner Stellung in Berlinghausen. Fast zur gleichen Zeit brausen aus Richtung Rothemühle vier Soldaten, höchstens 17 bis 19 Jahre alt, auf zwei erbeuteten US‑Jeeps heran. Eines dieser Fahrzeuge jagen sie in der Mühlenstraße mit einer Panzerfaust in die Luft, mit dem anderen rasen sie davon. Hoch über die Stadt hinweg pfeifen Ari‑Geschosse in Richtung Osterseifen‑Rhode und Kreuzberg‑Drolshagen. Der Himmel ist sternenklar.

 

Dienstag, 10. April 1945

0 Uhr: Wachtmeister Haas verlässt das Rathaus. Gegenüber im Hotel zum Schwanen findet er den Stadtkommandanten. Hauptmann Rody sitzt allein und ohne Beschäftigung. Haas bittet ihn, mit herüber in den Rathauskeller zu kommen. Er teilt ihm mit, dass feindliche Truppen bereits am südöstlichen Stadtrand stehen. Daraufhin meint Rody resigniert: "Dann hat mein Auftrag kaum noch eine Bedeutung. Ich gehe jetzt nach Hause und lege mich schlafen. Der Gefangenschaft werde ich ohnehin nicht entrinnen können." Haas will jedoch bleiben, um Schusswaffen samt Munition zu bewachen, die in größerer Zahl umherliegen.

Im Südosten der Stadt bereitet sich das 2. Bataillon des 13. Regiments vor, Olpe einzuschließen. Es kann eine Tagesleistung von rund 16 km und die Gefangennahme einer deutschen Infanteriekompanie kurz vor Olpe verbuchen. Das 13. Regiment gehört zur 8. amerikanischen Infanteriedivision, die den Beinamen "Pathfinder" trägt, Unter dem Befehl von Brigadegeneral Bryant E. Moore hat diese Division eine Sollstärke von 781 Offizieren, 13472 Mann, 1440 Fahrzeugen und 123 Geschützen. Sie ist Bestandteil des XVIII. Luftlandekorps (General Matthew B. Ridgway) von der Ersten Armee (General Courtney H. Hodges) in der 12. Heeresgruppe unter dem Oberkommando des Generals Omar N. Bradley.

1.10 Uhr: Major Cochrane von der 8. Division nimmt einen Funkspruch des 13. Regiments auf: "Das 2. Bataillon ist in der Stadt Olpe . . ."

1.45 Uhr: Cochrane lässt an Captain McQuade vom Korps funken, dass Olpe erobert wurde und die Truppen den Widerstand leichter Waffen brechen mussten.

2 Uhr: Wachtmeister Haas erhält über die noch intakte Telefonleitung aus Lüdenscheid einen Anruf. Dort will Kreisleiter Joost näheres über die Lage im Raum Olpe wissen. Haas berichtet ihm in wenigen Worten. ‑ Inzwischen haben amerikanische Soldaten über den Hohen Stein‑Kimicker Berg die Bruchstraße erreicht. Hier erwarten sie Truppen, die aus Richtung Gerlingen nachstoßen wollen.

Zwischen 5 und 5.30 Uhr: Ein deutscher Spähtrupp, dessen Gefechtsstand in Büren bei Drolshagen liegt, ‑ ein Offizier und 15 Mann ‑ stößt bis zum Hexenturm vor. Die im Schutz der Morgendämmerung mit vorgehaltenen Maschinenpistolen und in aller Stille sich vortastenden Soldaten müssen feststellen, dass die untere Felmicke und Martinstraße schon in Feindeshand sind. Ohne Feindberührung verlassen sie in Richtung Imberg‑Hardt als letzte Nachhut der fechtenden Truppe die Stadt. ‑ Am Hexenturmbunker haben mittlerweile einige der "Höhlenmenschen" die grellen Hetzplakate, die zu "Werwolf" - und Partisanenaktionen auffordern, abgerissen und versucht, aus Stoffbeständen der NSV eine große weiße Fahne anzufertigen. Im Übrigen wartet man auf "Panzeralarm". ‑ Ein amerikanischer Stoßtrupp dringt in die Kölner Straße vor. Vorsichtig, beinahe ängstlich biegt er in die "Wüste" ein.

6 Uhr: Spähtrupps dringen aus der Felmicke über die Frankfurter Straße zur Agatha‑ und Winterbergstraße vor. Nirgends kommt es zu Kampfhandlungen. Die Stadt ist ja frei von deutschen Kampftruppen. Im Bunker der hinteren Seminarstraße haben inzwischen Bürgermeister Wurm, Stadtoberinspektor Habbel und Kreisoberinspektor August Zimmermann einen Entschluss gefasst. Sie wollen den Amerikanern entgegengehen. Schon in der Schützenstraße beim Haus Scherer (Nr. 10) stoßen sie auf einen Vorposten, dem sie sich mit einem weißen Tuch nähern. Nach den Worten: "Ich bin der Bürgermeister. Führen Sie mich zum Kommandanten! Ich will die Stadt übergeben", wird Wurm aufgefordert, einen Jeep zu besteigen, während seine Begleiter zurückbleiben müssen. In rasender Fahrt geht es zur Maria‑Theresia‑Straße 52, zum Haus Wolf, in dem sich der amerikanische Stab einquartiert hat. Im Wohnzimmer des Erdgeschosses unten rechts sind ein Major mit Dolmetscher und vier weitere Offiziere anwesend. Nach einem kurzen Frage‑und‑Antwort Spiel kann sich Wurm an den Wohnzimmertisch setzen. Der Dolmetscher übersetzt ein in Englisch verfasstes Schriftstück mit ungefähr folgendem Wortlaut: "Als Bürgermeister übergebe ich die Stadt Olpe, Kreis Olpe, der amerikanischen Armee. Ich versichere, dass sich meines Wissens nach keine deutschen Kampftruppen im Stadtbezirk aufhalten. Allen Anordnungen der Besatzungsarmee werde ich mich fügen und ihre Befehle, so gut wie eben möglich, ausführen. Olpe, Westfalen, 10. April 1945."

6.30 Uhr: Bürgermeister Wurm unterzeichnet das ihm vorgelegte Dokument. Dann gibt man ihm gedruckte Aufrufe und Bekanntmachungen die er an­ schlagen lassen soll. Der nüchtern­ ernste Kapitulationsakt ist vorbei. Vorüber ist nun auch für Olpe der Schrecken des Zweiten Weltkrieges. Vor dem Haus wartet der Jeep, der den Bürgermeister zurückbringt.

7 Uhr: Der amerikanische Kampfkommandant richtet seine Befehlsstelle im Haus Dreseler, Bruchstraße 16, ein. Einer von seinen Offizieren und ein Neger fahren zum Haus Habbel, Seminarstraße 22, wo sie Bürgermeister Wurm, Stadtoberinspektor Habbel und Kreisoberinspektor Zimmermann antreffen. Nach dem förmlichen Kapitulationsakt findet nun die eigentliche Übergabeverhandlung statt. Ein anfängliches Wechselgespräch geht jäh zur Befehlsausgabe über. Im Magisterton stellt der Offizier Prognosen für Deutschlands nahe Zukunft: Nie wieder würden Deutsche Uniformen tragen, weder Post‑ noch Bahnbeamte.

8 Uhr: Nun ist Olpe wohl offiziell übergeben, und die Geschütze mussten eigentlich schweigen. Aber einige endsiegfanatische Störenfriede beginnen hinter dem Bahnhof eine Schießerei mit Kleinwaffen. Es sind Volkssturmmänner aus Düsseldorf. Mit Unterstützung der Anwohner werden sie gezwungen, sich nach Berlinghausen zurückzuziehen. Dort wollen sie sich verschanzen.

9.15 Uhr: Von Rüblinghausen rollen Panzer durch den Nebel auf Olpe zu. Einer der Panzer bestreut mit einigen MG‑Garben die Häuser der Biggestraße. Grete Hahn wird vor der Haustür ihres Elternhauses (Nr. 32) in den Leib getroffen. Zwei Stunden darauf ist sie tot. Man vermutet, dass ein angetrunkener Panzersoldat diese so sinnlose Schießerei eröffnet hat.

10 Uhr: Hinter der Bahnlinie sind die Volkssturmleute wiederaufgetaucht, um ihren Privatkrieg fortzusetzen. Vom Bratzkopf aus bestreichen sie die Innenstadt mit einem wilden Störfeuer. Aus der Maria‑Theresia‑Straße schicken amerikanische 8,8cm‑Geschütze ihre Granaten zur Tannenbergstraße. Hier, wo die meisten Häuser schon mit weißen Tisch‑ und Betttüchern beflaggt sind, erhält Haus Klein (Nr. 14) drei bis vier Treffer, darunter Brandgeschosse. Das Haus brennt aus. Die Nachbarhäuser Hesse (Nr. 19) und Huckestein (Nr. 20) werden schwer beschädigt. Zur gleichen Zeit überraschen in der Frankfurter Straße zwei harte Detonationen eine Gruppe amerikanischer Soldaten, die erschrocken im Cafe Gastreich Deckung suchen. Im Turmhelm des Hexenturms und an der Südwestwand des Turmes der evangelischen Kirche sind Granaten explodiert, die offensichtlich aus deutschen Stellungen bei Drolshagen abgefeuert wurden. Der Schaden ist mittelschwer. Gottdank bleiben das die einzigen deutschen Granaten, die Olpe treffen. ‑ Inzwischen klirren und rasseln Panzer und endlose Fahrzeugkolonnen durch die Stadt in Richtung "Wüste". Wegen der zerbombten Olpebach‑Brücke in der Kölner Straße wird der Verkehr ‑ wie an den Vortagen ‑ durch die Franziskanerstraße geleitet. Zum Schutz gegen die eigenen Flieger sind alle Wagen mit grellroten Tüchern bedeckt. Ihre Ketten und Räder mahlen durch Berge englisch geschriebener Flugzettel, die Stunden vorher aus deutschen Autos fortgeworfen wurden. ‑ Das Wetter ist frühlingsmild. Am blauen Himmel kreisen tief Beobachtungsflugzeuge. Inzwischen rückt der Amerikaner durch die Rochusstraße‑Westfälische Straße zum Stadtausgang beim Friedhof vor. Die Seminarstraße wird besetzt. Deutsche Resttruppen, die sich im Wald zwischen Olpe und Rhode festgesetzt hatten, gehen zurück. In der Kortemicke werden die Häuser nach Soldaten und Waffen durchsucht. Nachdem die Straße durchgekämmt ist, müssen Bewohner bestimmter Häuser ihre Wohnungen räumen. Das Benehmen der amerikanischen Soldaten, die nun vorübergehend die Häuser belegen, ist ‑ mit kleinen Ausnahmen ‑ korrekt. Wenn die Hausbewohner zurückkommen, finden sie zwar alle Türen und Schränke geöffnet, doch die Einrichtungen durchweg unversehrt vor. Sicherlich haben hier und da bestimmte Wertgegenstände, wie Schmuck, Orden, Radiogeräte, Ferngläser und Fotoapparate ihren Liebhaber gefunden. Fronttruppen besitzen andere Vorstellungen vom Eigentum. Und eine gewisse kindliche Freude am Sammeln von "Kriegsbeute" in Form kleiner oder großer Souvenirs lässt sich wohl nie unterdrücken.

11 Uhr: Im Lazarett "Oberlyzeum" forschen amerikanische Offiziere nach eigenen Leuten, die als Verwundete in deutsche Kriegsgefangenschaft gerieten. Sie entdecken u. a. Robert Muyres aus Minneapolis, Minnesota, der wahrend der Ardennen‑Offensive in deutsche Hände gefallen war. Befragt, wie es ihm ergangen sei, kann er nur das Beste berichten. Daraufhin schaffen die Amerikaner Verpflegung herbei, die vor allem den deutschen Lazarettinsassen zugute kommt, um deren Versorgung es nicht mehr gut bestellt ist. Muyres und seine Kameraden sollen in ein amerikanisches Feldlazarett überführt werden.

12 Uhr: Auf einem Abstellgleis im Bahngelände brennt ein Munitionszug. Schon in der Nacht seit 1 Uhr waren hier Vorräte gesprengt worden. Nun fliegen explodierende Geschosse durch die Gegend und setzen Haus Ganady, in der Wüste 9, in Brand. Niemand findet sich zu diesem Zeitpunkt bereit, das Haus zu löschen. Es brennt allmählich nieder.  Mittlerweile haben amerikanische Soldaten die Vorräte hiesiger Schnapsbrennereien und Sprituosenläger aufgespürt. Zusammen mit befreiten Ausländern und deutschem Pöbel schleppen sie Tausende von Flaschen weg oder betrinken sich an Ort und Stelle. Scheußliche Exzesse sind die Folge, einige Frauen und Mädchen müssen Fürchterliches über sich ergehen lassen.

Offiziere des C 1 C beschlagnahmen im Postamt 400 Sack Päckchen‑ und Briefpost. ‑ In Rosenthal werden auf den Wiesen bei der Wirtschaft Theile Zelte aufgeschlagen und in ihnen eine behelfsmäßige Verwundetensammelstelle untergebracht.

Abends: Sechs Langrohrgeschütze schießen in der Günse beim Mühlenteich die Ortschaften westlich von Drolshagen sturmreif. Um ein freies Schussfeld zu bekommen, mussten mehrere hohe Fichten gefällt werden. Viele Menschen werden durch die Abschüsse beunruhigt, sie gehen noch einmal in den Keller. ‑ Der deutsche Wehrmachtsbericht behauptet, dass unsere Divisionen nördlich der Sieg dem pausenlos angreifenden Gegner standhielten. Wie die Wirklichkeit aussieht, haben die vergangenen 24 Stunden allzu deutlich gezeigt!

 

Mittwoch, 11. April 1945

"Die Abwehrschlacht im Ruhrgebiet und in dem Frontbogen von der Siegmündung bis zur Möhnetalsperre nimmt an Heftigkeit zu. Zwischen Siegburg und Olpe, sowie weiter nordöstlich erwehren sich unsere Verbände der von Süden und Osten angreifenden Amerikaner . . ." So heißt es im heutigen Wehrmachtsbericht. Etwas anders lautet der Text, der im Kriegstagebuch des OKW verzeichnet wird: "... Westen ... Heeresgruppe B ... An der Südfront keine besondere Änderung, jedoch an der Südostecke an der Armeenaht ein 15 km tiefer Einbruch des Feindes nach Nordosten bei Olpe. Da die eigenen Kräfte hier schwach sind, ist dies als ernst zu betrachten . . ." Die Eroberung von Olpe meldet heute auch die bedeutende englische Tageszeitung "The Times". Die Nachbarstadt Attendorn wird in ihren südöstlichen Randgebieten von Truppen des 342. Regiments in der 86. amerikanischen Infanteriedivision erreicht.

Im Olper Rathaus herrscht eine fieberhafte Tätigkeit. Es gilt, Obdachlose unterzubringen, Verpflegung heranzuschaffen, Fliegerschäden zu bescheinigen, Passierscheine auszustellen ‑ und fast in allem den Anordnungen des Kommandanten zu gehorchen, der zeitweise auch im Rathaus sitzt. Um der allgemeinen Unordnung zu wehren, werden Hilfspolizisten mit Heinrich Heller an der Spitze ernannt. Diese durch weiße Armbinden legitimierten Zivilisten sind im Grunde recht hilflos. Da sie selbstverständlich keine Waffen besitzen, können sie wenig gegen die Schikanen befreiter Ausländer ausrichten. Während sich die wehrfähigen Deutschen auf eine baldige Gefangennahme gefasst machen müssen, haben besonders russische Kriegsgefangene die allgemeine Verwirrung zur Flucht in die Wälder benutzt, Gruppenweise kehren sie nun aus ihren Verstecken zurück und fordern Unterkunft, Verpflegung und Kleidung. Ihre Wünsche sind gewiss berechtigt, ihr ungestümes Auftreten aber nimmt bedrohliche Ausmaße an. Hoffentlich will und kann ihnen die Besatzung rechtzeitig entgegentreten, damit nicht organisierte Banden das Land terrorisieren.

In der Seminarstraße, Schützenstraße und Franz‑Hitze‑Straße sind ‑ weitere Häuser beschlagnahmt worden, einzelne Kommandostellen wie der amerikanische Abwehrdienst C 1 C eingerichtet, dünne Telefonkabel durch die ganze Stadt gelegt. Noch brennt nicht überall elektrisches Licht, die Wasserversorgung ist weiterhin stark behindert. Endlose Fahrzeugkolonnen durchziehen während des ganzen Tages die Stadt und zwar durch die Felmicke, da die Martinstraße wegen des großen Bombentrichters beim Hotel Kaiserhof unpassierbar ist. Noch ist die Front nahe! Am Abend setzt um 18 Uhr "curfew", die Ausgangssperre, ein, die bis zum anderen Morgen 6 Uhr dauern wird. Beginn und Ende des Ausgehverbots, das nur Priester und Ärzte in bestimmten Fallen überschreiten dürfen, zeigt ein kurzer Heulton der Alarmsirenen an. Die friedvolle Ruhe, die über Olpe liegt, wirkt nach den Tagen der Bomben und Granaten seltsam und unwirklich.

 

Donnerstag, 12. April 1945

Zum letzten Mal erwähnt der Wehrmachtsbericht die Front um Olpe: "Die Kämpfe im Ruhrgebiet und dem Bergischen Land beiderseits Olpe hielten auch gestern in unverminderter Hörte an ... Aus dem Raum von Olpe erzwang der Gegner einen tieferen Einbruch, gegen dessen Flanken Gegenangriffe im Gange sind..." Ähnlich lautet die Eintragung im Kriegstagebuch: "Bedrohlich ist der feindliche Vorstoß bei Olpe in Richtung Lüdenscheid; dagegen die Panzer‑Lehrdivision . . ." Mit Ablauf des Tages haben feindliche Verbände im Nordwesten die Kreisgrenze erreicht. Somit ist nun das gesamte Kreisgebiet von amerikanischen Truppen besetzt.

Bürgermeister Wurm wird vormittags zu einer Vernehmung abgeholt. In der Kampstraße hat er einen Augenblick lang zu warten. Er gesellt sich zu einer Gruppe bekannter Olper in Uniform, die ebenfalls einer Begegnung mit Vernehmungsoffizieren entgegensehen. Da taucht plötzlich ein amerikanischer LKW auf, den alle besteigen müssen. In rascher Fahrt geht es ins Bergische Land. Wohl ohne Absicht des Olper Kommandanten gerät der Bürgermeister in Kriegsgefangenschaft.

Olpe erlebt heute einen denkwürdigen Tag. In den Mittagstunden wird überraschend für die Bewohner der oberen Westfälischen Straße eine Ausgangssperre verhängt. Das Gebiet um das Gebäude der NSDAP‑Kreisleitung riegelt man hermetisch ab. Hier hat sich das Hauptquartier des XVIII. Luftlandekorps unter Generalmajor Ridgway niedergelassen, das der 12. Heeresgruppe von General Bradley zugeteilt ist. In den gegenüberliegenden Wohnungen steht man rätselnd hinter den Gardinen. Warum diese Maßnahmen? Bald erscheint ‑ im Schutz von Panzergeleit ‑ eine Gruppe hoher Offiziere. An ihrer Spitze befindet sich der Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte in Europa ‑ Dwight D. Eisenhower. Eine größere Inspektionsreise führt ihn in unseren Raum und nach Mitteldeutschland. Im Erdgeschoß der "Kreisleitung" nimmt Eisenhower an einer Tafelrunde teil. Dann, nach etwa drei Stunden, ist der Besuch beendet.

Bei einer am Nachmittag zwischen Stadtverwaltung und Kommandanten statt­findenden Besprechung stellt sich heraus, dass der Bürgermeister fehlt. Nur sein Vertreter L. Müller ist noch im Amt. Der amerikanische Kommandant wird von einem farbigen Soldaten begleitet. Dieser hat vorgestern Dr. Heinrich Spies getroffen und festgestellt, dass der 58iöhrige Kaufmann aus Köln ‑ z. Z. bei den nach Attendorn evakuierten Imbert‑Werken tätig ‑ geläufig Englisch spricht. Seitdem wird Dr. Spies bei wichtigen Besprechungen als Dolmetscher hinzugezogen. Im Verlauf des heutigen Gespräches im Rathaus weist der Neger ironisch lächelnd auf den Dolmetscher und meint: "Oh, there is our new Burgomaster!" Für den Kommandanten ist das ein Stichwort. Er  unterhält sich mit Dr. Spies und glaubt, dass er der richtige Mann für das Amt des Stadtoberhauptes ist. Aus einem Scherzwort wird der Befehl, unverzüglich die Aufgaben des Bürgermeisters zu übernehmen.

 

Freitag, 13. April 1945

Gestern ist der amerikanische Präsident Roosevelt gestorben. Das Sternenbanner vor den Olper Kommandostellen geht auf halbmast. Die "Westfälische Landeszeitung ‑ Rote Erde" schreibt, dass der Druck der Amerikaner in den "Widerstandsabschnitten" Olpe und Bochum anhält. Gleichzeitig gibt sie zu, dass der Feind bei Olpe bis zu den Höhen von Volbert vorgedrungen sei. In Olpe erwägt wohl niemand ernstlich ob die Front wieder zurückkommen könnte. Die Obermacht der amerikanischen Luft‑ und Landstreitkräfte ist ja ganz offensichtlich. Trotz der spärlichen Nachrichtenmittel weiß man, dass sich der Ruhrkessel nur noch wenige Tage halten kann. Der große Stoßkeil, der von Siegen über Olpe‑Lüdenscheid nach Hagen vorangetrieben wird, spaltet die Heeresgruppe B in einen westlichen Kessel mit der 5. Panzerarmee und einen östlichen mit der 15. Armee. Während sich also hier im Westen Deutschlands das Ende abzeichnet, brechen auch die übrigen Fronten im Süden, Norden und Osten mehr und mehr zusammen.

Die Stadt Olpe ist bei den Erdkämpfen verhältnismäßig glimpflich davongekommen. Überall liegen zwar die Spuren dieser letzten Tage bloß: verstreutes Heeresgut, Munition, Gerät und zerschossene Wagen an den Straßen ‑ Wracks eines unübersehbaren Schiffbruchs! Doch täuschen diese Bilder. Denn Gegenangriffe wie im östlichen Kreisgebiet sind Gottdank nicht geführt worden. Wäre es aber zu Widerstandsaktionen gekommen, so hätte man wie amerikanische Soldaten offen erklären ‑ den Raum Olpe erbarmungslos mit Bomben und Granaten belegt. Und wer weiß, was dann übrig geblieben wäre? Wenig haben dagegen ‑ im Vergleich zu den Auswirkungen der Fliegerangriffe ‑ die vielleicht 150 Artilleriegranaten angerichtet.

Nun ist jeder Waffenlärm verstummt! Allen erscheint die Ruhe, die nicht mehr trügerisch ist, als die größte Wohltat. Niemand braucht sich jetzt noch in Keller‑ oder Bunkergewölben zu verstecken und von einem Flugzeugbrummen in Angst jagen zu lassen. Ungestört können sich die Menschen der Stadt zur Ruhe legen, nicht alle in ihren eigenen Betten, weil ihnen die Häuser zerstört oder beschlagnahmt wurden. Die meisten ahnen wohl, dass sie einer sorgenvollen Zukunft entgegen schlafen. Sie liegt vor ihnen wie der lange Weg durch einen dunklen Tunnel; weit in der Ferne blinkt der helle Ausgang.

1) Olpe im 2. Weltkrieg 2) Als die Sirenen heulten 3) Flucht in die Felsen der Stadt 4) Bilanz des Schreckens
5) Frontabschnitt "Raum Olpe" 6) Eine Chronik dunkler Tage 7) Spurensuche 2004 by St. Kaiser