Rotes Kreuz auf Olper Dächern

 

 In Olpe gab es außer wenigen Soldaten im Wehrmeldeamt, in den Reservelazaretten und einigen Gefangenenbewachungskommandos keine eigentlichen Kampfeinheiten. Die Stadt galt demnach als Lazarettstadt, wenn sie auch dazu nicht offiziell ernannt worden war. Eine solche Anerkennung von höchster Stelle wäre wohl kaum zu dieser Zeit noch möglich gewesen, obwohl sich der Standortälteste, Major von Hammerstein als Leiter des Wehrmeldeamtes, darum bemüht hatte. Die Lazarette in Olpe, Attendorn, Drolshagen und Bergneustadt waren Bestandteile des "Reservelazaretts Attendorn", das dem aus Köln stammenden Oberstabsarzt Professor Dr. Seitz unterstand. In Olpe trugen drei Häuser das Rote Kreuz. Im St. Martinushospital und im Exerzitienhaus des Mutterhauses war die innere Abteilung, während die St. Franziskus‑Schule (volkstümlich "Oberlyzeum" benannt) die chirurgische Abteilung mit der größten Bettenzahl besaß. Diese Häuser, die von Stabsarzt Dr. Erich Junker und sieben Ärzten geführt wurden, konnten maximal 400 Soldaten aufnehmen. Krankenhaus und Oberlyzeum hatten eigene Notstromanlagen; an Bettzeug, Geräten und auch an Medikamenten samt Verbandszeug fehlte es nicht. Der Rektor des Mutterhauses, Dr. Heinrich Niebecker, übte das Amt eines Lazarettgeistlichen aus.

In den letzten Wochen vor dem Einmarsch der Amerikaner waren alle Häuser überfüllt; allein das Oberlyzeum wies eine Belegung von nahezu 1000 Personen auf. Unter ihnen befanden sich viele Zivilisten und frisch verwundete Soldaten von der nahen Front. Die meisten der etwa 250 verletzten Zivilpersonen wurden nach dem 28. März in das eigens eingerichtete Zivillazarett Osterseifen verlegt. Das Gebäude des aufgelösten Pallottinerklosters hatte bisher eine NS‑Entbindungsanstalt beherbergt. Durch diese Verlegung wurde besonders das Krankenhaus entlastet, wo die Zivilärzte Bonzel, Brüser und Groß praktizierten. Neben den genannten Lazaretten bestand für kurze Zeit in der Imberg‑Volksschule das "Kriegslazarett Pohl", das durchziehende Frontsoldaten versorgte. Unmittelbar nach der amerikanischen Besetzung bezogen rund 50 kranke Strafgefangene aus Siegburg und Köln, die von Lüdenscheid überführt worden waren, die damalige Landwirtschaftsschule auf dem Gallenberg. Zu den genannten pflegebedürftigen Menschen, die zusammen mit den rund 2500 Evakuierten die Einwohnerzahl jäh ansteigen und somit die städtischen Sorgen um Nahrung und Wohnung wachsen ließen, gesellten sich noch die Insassen eines Kinderheims aus Mönchengladbach. 18 Ordensschwestern („Dienstmägde Christi“), Angestellte und 250 Kinder waren im Oktober 1944 nach Olpe geflüchtet und hatten im Gymnasium Obdach gefunden.

 

Olpe als Hauptquartier der Heeresgruppe B

Nachdem die Erste US‑Armee unter General Hodges am 7. März über die unversehrt gebliebene Ludendorffbrücke von Remagen das östliche Rheinufer erreicht hatte, baute sie zunächst den rechtsrheinischen Brückenkopf als Ausgangsposition für den Stoß ins innere Deutschland aus. Von hier aus setzte der Gegner am 22. März zum Angriff an, gegen den sich die deutschen Kräfte in den folgenden Tagen als zu schwach erweisen sollten. Kaum waren feindliche Einbrüche noch abzuriegeln. Im südlichen Westfalen beobachtete man weniger die Stoßbewegung nach Nordosten in Richtung Marburg‑Frankenberg. Vielmehr schenkte man der Lageentwicklung an der Westerwald‑ und Siegfront erhöhte Aufmerksamkeit.

Bereits am 20. März war der Stab des Generalfeldmarschalls Walther Model, des Oberbefehlshabers der Heeresgruppe B, in Neuenkleusheim eingerückt, hatte die Schule beschlagnahmt und dort Kartenstelle und Telefonvermittlung eingerichtet. Privatanschlüsse wurden gesperrt, die Ortseingänge von Feldgendarmerie streng bewacht. Am 23. März erfolgte dann die Verlegung des Hauptquartiers der Heeresgruppe von Rimbach an der Sieg nach Olpe, während der eigentliche Gefechtsstand anderntags in Neuenkleusheim seinen vorläufigen Standort fand. Da Model der größeren Sicherheit wegen die Dörfer um Olpe vorzog, wurde nur sein Nachrichtenapparat im Wehrmeldeamt aufgebaut. Amerikanische und englische Armeen hatten inzwischen den Rhein bei Wesel überquert, eine nördliche Zangenbewegung um das Ruhrgebiet stand dicht bevor. Um der vorauszusehenden Einschließung in einem "Ruhrkessel" zu entgehen, plante Model einen Ausbruch nach Süden und Osten. So schienen seine Pläne vor allem an der Siegfront einigen Erfolg zu versprechen. Diesen operativen Ideen folgend, hatte er Olpe ‑ einen Punkt auf dem äußersten rechten Flügel- zum Hauptquartier bestimmt. Models Wahl wurde später von Generalfeldmarschall Albert Kesselring, der ab 10. März Oberbefehlshaber West war, als ungeschickt verurteilt. Weniger die topographische Ungunst der Stadt in einem Talkessel nannte er eine taktisch schlechte Vorbedingung, sondern mehr die abseitige Position Models zu den Truppenteilen, die in der Mitte und auf dem linken Flügel seiner Heeresgruppe kämpften. Nachträglich vertrat Kesselring die Meinung, dass die Entscheidung für Olpe "aus ganz bestimmten, die kommenden Operationen bestimmenden Gesichtspunkten" gefällt worden sei. Vielleicht seien auch postalische Gründe dazugekommen, was bei der allgemein schlechten Lage der militärischen Nachrichtenübermittlung verständlich wäre. Olpe bot nämlich ein intaktes Fernsprechamt. Noch am 28. März hätte die oberste Führung einen Ruhrkessel verhindern können, wenn sie andere Weisungen erteilt oder der Heeresgruppe Handlungsfreiheit gewahrt hätte. Es wäre besser gewesen, den bindenden Auftrag, Rheinfront und Ruhrgebiet zu halten, aufzuheben und stattdessen zu einer beweglicheren Kampfführung überzugehen.

Der Raum Olpe war also seit dem 23. März zum Frontabschnitt geworden, obwohl die Hauptkampflinie noch mehr als 60 km entfernt lag. Kampfzone und Hinterland kannten in diesen Tagen keine festen Grenzen. Ständig er­füllte den Luftraum das drohende Surren einzelner Flugzeuge, die im Tief­flug alles Lebendige ‑ ob Mensch, ob Vieh ‑ erbarmungslos niederknallten. Auch nachts gab es kaum Ruhe. Einzelmaschinen, aus Galgenhumor "Eiserner Heinrich" oder "Gustav" genannt, kreisten zwischen 20.30 Uhr und 24.00 Uhr über den Räumen Olpe und Siegen, ließen MG‑Salven rattern und bisweilen eine oder zwei Bomben fallen; jede Bewegung, jeder Lichtschein am Erdboden schien ihnen verdächtig. Nach Mitternacht wurden sie von schwe­ren Bomberpulks abgelöst, die jedoch ‑ wie tagsüber ‑ nach Nord‑ oder Mitteldeutschland weiterflogen. Kein Wunder, dass jeder Kondensstreifen am Himmel gefürchtet war und die sich mehrenden "Sirenentage" verflucht wur­den. Wenn sich die Alarmsignale in raschem Wechsel ablösten, war die nerv­liche Belastung kaum mehr zu ertragen. Die häufigen Überfälle aus der Luft galten vor allem dem Verkehrsnetz, das ausgeschaltet oder doch gelähmt werden sollte. Hart zu leiden hatten die sonst unbedeutenden Bahnhöfe im Biggetal und auf der Strecke nach Köln. Aufklärerflugzeuge fotografierten Verkehrsknotenpunkte, um sie später wirksam angreifen zu können. Der Zug­verkehr wurde nur noch in den frühen Morgen‑ und Abendstunden aufrecht­ erhalten, Post‑ und Zeitungszustellung gerieten in Unordnung. Durch die Straßen zogen Scharen von Flüchtlingen, Volkssturmleuten, Trupps von Infanteristen, dazwischen zwängten sich Militärwagen und Reiter, russische und französische Kriegsgefangene. Soldaten aller Waffengattungen lagen in den Wäldern und Dörfern rings um Olpe, auf offener Landstraße suchten sie hinter Sträuchern oder in so genannten Einmannslöchern Deckung vor den niedrig ziehenden Jabos, die ‑ Raubvögeln gleich ‑ auf Beute lauerten.

In der Stadt wickelte sich das Leben hauptsächlich zwischen den Alarmen ab, da z. B. die Geschäfte nur bei geringer Luftgefahr offen hielten. Hl. Messen wurden frühmorgens und am Spätnachmittag zelebriert, Beerdigungen fanden bereits in der Frühe um 6.30 Uhr statt. Das Leben in den Familien verlief längst nicht mehr ungestört. Am 9. März schlossen die Schulen, um in ihren Räumlichkeiten Obdachlose unterzubringen. Die Kinder hatten ohnehin meist „alarmfrei“ gehabt, weil der erste Fliegeralarm häufig vor 10 Uhr kam und damit jede Schulpflicht entfallen war. Während die Männer tagsüber schwer arbeiten mussten und nachts selten Ruhe fanden, gingen ihre Frauen nur den notwendigsten Arbeiten im Haushalt nach. Zu oft mussten sie den Keller oder Bunker aufsuchen. Seit Januar war Olpe ohne Gas, Heizmaterial war schwer zu beschaffen. Noch lief die Versorgung mit Lebensmitteln relativ störungsfrei, doch war ein Ausfall von heute auf morgen möglich. Bedauernswert wurde das Geschick der Alten und Kranken, die sich eigentlich nur noch in den Schutzräumen untertage aufhalten konnten, weil sie allzu oft hin und her hätten transportiert werden müssen. Die Stimmung der Bevölkerung sank stetig. Entgegen aller Durchhalteparolen glaubten die meisten, dass jeder weitere Widerstand aussichtslos und ein deutscher Sieg unmöglich sei. Man ließ sich hierin durch feindliche Flugblätter oder Radiomeldungen bestärken, obwohl diese Art der Information Freiheit und Leben kosten konnte. Es gab auch andere ‑ blinde Fanatiker ‑, die fest an den Einsatz deutscher Wunderwaffen glaubten und auf die Wirkung von V 1 und V 2 hinwiesen, deren Bahn man hoch am südwestlichen Himmel auch in Olpe seit längerem beobachtete. Doch eine bange Frage quält alle‑ Was machen wir, wenn die Front näher rückt? Sollen wir fliehen oder uns zu Hause überrollen lassen, sollen wir uns in Keller und Bunker verkriechen oder in die Wälder flüchten? Die verantwortlichen Stellen versuchten die allzu ängstlichen Seelen zu beruhigen‑ An eine zwangsweise Evakuierung der Zivilbevölkerung sei nicht gedacht. Trotz der paar Tiefflieger sollten die Hausfrauen getrost am Kochtopf ausharren. Und im übrigen würde man schon sehen ...

Die halbfertigen Felsenstollen wurden zu Brutstätten der Gerüchte. So hieß es, dass Olpe nicht nur total bombardiert und dem Erdboden gleichgemacht würde, nein, die Erdtruppen würden auch noch die Keller‑ und Bunkerschlupfwinkel mit Flammenwerfern ausräuchern. Gerade das lange bange Warten während der Alarme förderte diese durchweg unsinnigen Gespräche. Düstere Prophezeiungen aus der Zeit um 1900, die von einem Mann mit der Gabe des „Zweiten Gesichtes“ stammen sollten, machten die Runde. In ihnen wurde „der Sturz des rechten Kirchturms“ vorausgesagt und auch, dass man „vom Marktplatz aus den Bahnhof sehen könnte“, womit die Zerstörung der Unterstadt gemeint war. Ein seltsames Gemisch von dunklen Voraussagen, Frontgerüchten, Stollenparolen aller Schattierungen und vereinzelter Siegeshoffnungen schwirrte umher; doch gab es auch echte Frömmigkeit, tiefes Gottvertrauen und Beweise hilfreicher Nächstenliebe. Alle, die am Arbeitsplatz oder in Kellern und Erdhöhlen um die Zukunft bangten, klammerten sich an die Hoffnung, dass die Zeit ihrer Bedrängnis abgekürzt würde.

1) Olpe im 2. Weltkrieg 2) Als die Sirenen heulten 3) Flucht in die Felsen der Stadt 4) Bilanz des Schreckens
5) Frontabschnitt "Raum Olpe" 6) Eine Chronik dunkler Tage 7) Spurensuche 2004 by St. Kaiser